Mittlerweile müssen riesige Mengen Öko-Energie weggeworfen werden, weil sie schlicht nicht mehr von Leitungen abtransportiert werden können. Dabei handelt es sich zu über 90 Prozent um Windstrom. Foto: dpa

Fehlende Energietrassen werden für Deutschland zu einem immer größeren Problem. Der Aufwand, die Energieversorgung ohne die großen Nord-Süd-Verbindungen stabil zu halten, steigt rasant an. Eine Entwarnung ist nicht in Sicht.

Bonn/Stuttgart - Sturmtief Niklas wird den Verantwortlichen in den Leitwarten der deutschen Übertragungsnetzbetreiber noch lange in Erinnerung bleiben. Zwischen dem 30. März und dem 2. April fegte der Sturm über Norddeutschland und setzte innerhalb von Stunden Hunderte Windräder vor und an den deutschen Küsten unter Volllast. Bis zu 30 Gigawatt Energie – das 30-Fache der Nennleistung eines Großkraftwerks – drückten plötzlich ins deutsche Stromnetz.

Um einen Kollaps der Energieversorgung zu vermeiden, fuhr die Energiewirtschaft die ganz großen Geschütze auf. Im Norden wurden Windanlagen stillgelegt, in Süddeutschland Kraftwerke in großem Stil hochgefahren und zusätzlich Strommengen aus dem Ausland angefordert. Auch die berüchtigten Notfallmeiler – eine Art Spundwand vor einem kompletten Netzzusammenbruch – wurde mobilisiert.

Insgesamt 11 Gigawatt an Leistungsreserven kratzten die Verantwortlichen im Süden zusammen, um der Kraft, die Niklas an den Küsten entfaltete, etwas entgegenzusetzen. Es reichte aus. Ein Blackout konnte abgewendet werden.

Es sind Situationen wie diese, die die Energiewirtschaft fürchtet: ein Stromnetz, das an einem Ende in Energie zu ertrinken droht und in dem auf der anderen Seite Ebbe herrscht. Der Flaschenhals sind die drei geplanten Stromleitungen von Nord nach Süd, die durch ihre schiere Größe imstande wären, die Energie schnell abzuleiten und so für ein Gleichgewicht der sensiblen Energieflüsse zu sorgen.

Nach politischen Streitereien über den Verlauf der Trassen und massiven Bürgerprotesten sind die Leitungen aber Jahre hinter dem Zeitplan zurück. Fortschritte gibt es einzig bei Ultranet, dem westlichsten der drei Kabelstränge. Der Flaschenhals zwischen Nord und Süd wird dauerhaft erst in Jahren beseitigt sein.

Die Kosten, um einen Blackout zu vermeiden, steigen an

Bis dahin – so viel ist klar – wird es immer komplizierter und teurer, Deutschland vor dem Energie-Kollaps zu bewahren.

Nach Daten der Bundesnetzagentur (BnetzA) und der vier Übertragungsnetzbetreiber hat es wegen der Netzengpässe im ersten Halbjahr 2015 fast 500 Millionen Euro gekostet, die deutsche Energieversorgung anderweitig abzusichern. Darin enthalten sind 253 Millionen Euro, die es nach vorläufigen Daten kostete, fossile Kraftwerke exakt so zu steuern, dass sie zusammen mit den stark schwankenden erneuerbaren Energien eine stets auf den tatsächlichen Verbrauch abgestimmte Energiemenge zur Verfügung stellen. Im gesamten Vorjahr waren für diese auch Redispatch genannten Maßnahmen nur 187 Millionen Euro nötig.

Auch die berüchtigten Reservekraftwerke – meist längst abgeschriebene Alt-Meiler, die von der Energiewirtschaft in der Hinterhand gehalten werden, um bei Notsituationen mit Energielieferungen einzuspringen – wurden 2015 weitaus häufiger aus ihrem Dämmerschlaf gerissen als 2014. Abzulesen ist das an den Kosten, die ihr Einsatz verursachte. 2014 schlugen diese laut Monitoringbericht der BnetzA und des Bundeskartellamts mit 75 Millionen Euro zu Buche. Im laufenden Jahr rechnet man mit 180 Millionen Euro, also mit etwa 90 Millionen Euro für ein Halbjahr.

Windenergie wird einfach abgeschaltet – das kostet Deutschland jedes Jahr viele Millionen

Besonders paradox ist der Umstand, dass mittlerweile riesige Mengen Öko-Energie weggeworfen werden müssen, weil sie schlicht nicht mehr von Leitungen abtransportiert werden können. Dabei handelt es sich zu über 90 Prozent um Windstrom. In Starkwindphasen, wie beim Wintersturm Niklas, werden die Windräder schlicht abgeschaltet. Die entgangene Energieausbeute muss den Betreibern aber zurückerstattet werden. Bis Ende Juni 2015 summierte sich dieser Betrag auf 149 Millionen Euro – fast das Doppelte des Vorjahreswertes. Mit knapp 1500 Gigawattstunden wurde annäherungsweise so viel Energie weggeworfen, wie 1,5 Kernkraftwerke in einer Stunde unter Volllast abgeben könnten.

Die Zeche zahlen die Verbraucher. Alle genannten Kosten werden über die Netzentgelte im Strompreis auf die Verbraucher umgelegt. Nach einer Analyse des Leipziger Instituts für Energie (IE) wird dies die Strompreise über alle Kundengruppen in 2015 um 0,2 Cent je Kilowattstunde in die Höhe treiben. „Wir werden uns damit abfinden müssen, dass diese Beträge in den nächsten Jahren weiter ansteigen“, sagte Marcel Ebert vom IE Leipzig unserer Zeitung.

Wie weit? Der Netzbetreiber Tennet zumindest rechnet bis 2020 mit jährlichen Kosten von einer Milliarde Euro, um Deutschland vor dem Strom-Kollaps zu bewahren.