Viele Strom- und Gaskunden bekommen dieses Jahr eine Preiserhöhung oder gar die Kündigung von ihrem Versorger. Der Markt spielt verrückt.
Stuttgart - Der Stuttgarter Betriebswirt Matthias Moeschler hat gerade alle Hände voll zu tun – und das in seiner Freizeit. Vor ein paar Jahren zum Opfer übler Tricks eines Stromanbieters geworden, hat es sich Moeschler zur Aufgabe gemacht, andere Energiekunden kostenlos zu beraten – er profitiert nur, wenn jemand einem Link auf seiner Website folgend auf einem Preisportal einen Vertrag abschließt. Doch um Vertragsabschlüsse geht es derzeit meist nicht vorrangig bei den massiv gestiegenen Anfragen – sondern um Tipps, wie man sich gegen das Gebaren vieler Anbieter wehren kann.
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Was zurzeit passiert
„Das ist richtig wild, was da abgeht“, sagt Moeschler. Auf seiner Seite Verbraucherhilfe-stromanbieter.de dokumentiert er, was ihm Betroffene mitteilen: Fünf Anbieter von Strom und/oder Gas haben in den vergangenen Wochen Insolvenz angemeldet, 14 Anbieter haben ihren Kunden außerordentlich gekündigt, etliche haben die Abschläge erhöht – in der Spitze um mehr als 250 Prozent – und andere heben ihre Preise auf das Dreieinhalbfache an. Und schaut man sich auf Strom- und Gaspreisportalen um, bietet sich auch dort ein gänzlich anderes Bild als sonst: Marken, die früher immer vorne rangierten, sind verschwunden, weil sie als Discount-Anbieter derzeit in die Bredouille geraten. Und täglich wechseln die Erstplatzierten. „Wir passen fast täglich unsere Tarife an“, bestätigt der Produktmanager eines Stadtwerks die Beobachtung, „im Zweifel sogar sonntags.“ Warum? Dazu später mehr.
Beispiele aus der Praxis
Unser Leser Peter Michelfelder etwa hat Post von der Schwarzwald Energy bekommen: Obwohl seine Preisgarantie noch bis Ende 2023 gelten sollte, hat ihm der Versorger „aus wirtschaftlichen Gründen“ den Erdgasvertrag gekündigt und im gleichen Schreiben ein neues Angebot gemacht: zum 3,3-Fachen dessen, was Michelfelder bisher bezahlt hat. Auch Fred Dieckmann wurde von seinem Stromversorger Maingau Energie über eine Erhöhung informiert: Sein Preis pro Kilowattstunde soll sich von 23,23 Cent auf 47,99 Cent mehr als verdoppeln – nachdem die Maingau Energie zwei Wochen zuvor noch zu einer Preissenkung gratuliert hatte, weil 2022 die EEG-Umlage sinkt . . .
Was das für Gründe hat
Um zu verstehen, was gerade am Markt für Haushaltskunden geschieht, muss man auf die dahinterliegenden Märkte blicken – also auf die Großhandelspreise für Strom, Gas oder Emissionszertifikate. „Wir sehen jeden Tag neue Höchststände“, sagte Tobias Federico, Geschäftsführer des Energieberatungs- und Analyseunternehmens Energy Brainpool in einer Gesprächsrunde der „Zeitung für kommunale Wirtschaft“ (ZfK) zum Thema „Energiepreise auf Rekordhoch: Wie geht es weiter?“. Der Börsenstrompreis für die Megawattstunde, der erst vor sechs Wochen auf über 100 Euro gestiegen sei, habe gerade auch die 200-Euro-Grenze gesprengt. Erdgas koste 80 Euro pro Megawattstunde für das Jahresband 2022 – „das ist eine Zahl, die wir noch nie hatten“. Und die Zertifikatspreise für Treibhausgasemissionen notieren bei mehr als 80 Euro – das sei langfristig erwartet worden, aber „noch nicht jetzt“. Hinzu komme eine enorme Schwankungsbreite der Börsenpreise.
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Was die Märkte treibt
Zum einen gibt es fundamentale Gründe für die steigenden Preise: Dazu zählen die niedrigen Füllstände der Gasspeicher in Europa, die angesichts der hohen Preise auch kaum weiter befüllt werden, und die fragliche Inbetriebnahme der Pipeline Nord Stream 2. Der hohe Gaspreis wiederum treibe die Nachfrage nach Kohle, so Federico, aus der ebenfalls Strom gewonnen wird. Und die Bemühungen um einen globalen Kohleausstieg wiederum ließen die Emissionspreise steigen, was die Stromproduktion aus fossilen Brennstoffen verteuert. Zum anderen sei eine Menge Nervosität im Markt. Auch nebensächliche Nachrichten lösten Preisausschläge aus – beispielsweise alles, was sich auf den russischen Gaskonzern Gazprom beziehe. „Das ist wie mit dem Sack Reis: Nur solange Reis nicht knapp ist, interessiert es nicht, wenn ein Sack Reis umfällt.“
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Was das für Folgen hat
Nervös reagieren aber nicht nur die Märkte, sondern auch viele Strom- und Gasanbieter. Besonders betroffen von den hohen Marktpreisen sind Versorger, die auf eine kurzfristige Beschaffungsstrategie gesetzt haben. Lange Zeit galt: Wer spät kauft, kauft billig. Insbesondere Energiediscounter haben das getan. Wer sich jetzt vorwiegend am Spotmarkt eindecken muss, gerät in Schwierigkeiten. Und bringt andere in Schwierigkeiten.
Auswirkungen auf Grundversorger
Denn wenn ein Discounter wie Gas.de sich seiner Kunden entledigt, fallen diese in die sogenannte Ersatzversorgung ihres Grundversorgers – der für mehrere Tausend neue Kunden seinerseits aber nicht vorausschauend einkaufen konnte, weil mit ihnen nicht zu rechnen war. „Solange ich hier arbeite – und das sind über 30 Jahre –, freuen wir uns über neue Kunden“, sagt beispielsweise der Sprecher eines Stadtwerks, „aber das kippt gerade.“ 117 Gas- und 52 Stromgrundversorger haben daher bisher einen eigenen Ersatzversorgungstarif für Neukunden geschaffen, berichtet Lars Quiring, Mitgründer des Leipziger Informationsdienstleisters Get AG und Betreiber des Portals Preisvergleich.de. Die Preise lägen dabei vor allem für Gas um bis zu 50 Prozent über denen der normalen Grundversorgung für Altkunden, deren Preise mitunter sogar sinken. Ob diese Splittung rechtlich zulässig ist, werden wohl Gerichte überprüfen müssen. Der Verband kommunaler Unternehmen (VKU) sieht darin „ein rechtliches Risiko“.
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Was Verbraucher jetzt tun können
Alles, was wir in den vergangenen Jahren an dieser Stelle geschrieben haben, gilt zurzeit nicht oder nur eingeschränkt. War die Grundversorgung beispielsweise früher in aller Regel nicht die beste Wahl, hat sie heute zumindest den Vorteil, dass der Kunde nur zwei Wochen Kündigungsfrist hat – in der Ersatzversorgung, also den ersten drei Monaten, nachdem man nolens volens beim Grundversorger gelandet ist, entfällt die Kündigungsfrist sogar gänzlich. Wer also in die Ersatzversorgung fällt, kann im Zweifel dort bis zum Frühjahr abwarten, ob es wieder günstigere Tarife gibt.
Wer nur eine Preiserhöhung erhalten hat, sollte seine Gas- und Stromverträge wie sonst auch überprüfen. Und das nach Möglichkeit an mehreren Tagen. Die Erstplatzierten ändern sich wie eingangs erwähnt täglich. Zu viele Neukunden zu gewinnen, ist zurzeit riskant. Laut Lars Quiring wählen 30 bis 50 Prozent die Nummer 1 eines Vergleichs als ihren neuen Versorger. Vor allem beim Gas ist eine Preiserhöhung in diesem Jahr der Regelfall – in der Grundversorgung liegt sie laut Preisvergleich.de im bundesweiten Durchschnitt über alle Grundversorger bei knapp 22 Prozent. Beim Strom sind es durchschnittlich nur 1,3 Prozent Erhöhung. Das ist aber nur eine Orientierung. Ob der eigene Preis wettbewerbsfähig ist, zeigt nur ein Blick in Preisportale. „Empfehlenswert sind Anbieter, die ein geringes Insolvenzrisiko haben, weil sie über eine eigene Netzinfrastruktur verfügen, verbraucherfreundliche AGB haben und einen guten Kundenservice bieten“, sagt Matthias Moeschler.
Ein Blick in die Glaskugel
Wie geht es weiter? Mit einem Ausblick tun sich Marktbeobachter schwer. Relativ hohe Einigkeit herrscht darüber, dass ähnliche Situationen im Winter künftig häufiger eintreten könnten. Und dass sich die Situation mit dem Ende der Heizsaison entspannen könnte. Festlegen lassen will sich aber niemand nach den Erfahrungen der letzten Monate. „Mit diesen hohen Preisanstiegen hat niemand gerechnet“, sagte Reinhard Klimeck, der Bereichsleiter Handel der Stadtwerkekooperation Trianel, bei dem ZfK-Webtalk. Er erwartet kurzfristig keine Entspannung.