Silvia Grosse ist bei ihrer Lieblingsbeschäftigung. Foto: Sigerist

Ein Leben ohne Nadel wäre nichts für Silvia Grosse: Die 55-jährige Frau aus Sillenbuch ist eine leidenschaftliche Strickerin.

Stuttgart-Sillenbuch - Wenn Silvia Grosse strickt, klappern die Nadeln etwas schneller als bei normalen Handarbeiterinnen. Und ihre Zeit von Null auf 100 Garnmeter wäre – wenn sie denn gestoppt würde – ganz schön fix. Kein Wunder, strickt die Frau aus Sillenbuch doch schon ihr ganzes Leben lang – privat und beruflich. „Das ist keine hausbackene Geschichte“, sagt die 55-Jährige, um stricklieselnden Vorurteilen vorzubeugen. Wer die aparte Blondine im kreativen Outfit so sitzen sieht, würde auch nicht glauben, dass sie Kaffeekannenwärmer aus Wolle vernetzt oder gar Klopapierrollenschützer für Auto-Fonds herstellt. Ein Strickwerk ist für die Sillenbucherin nicht nur etwas zum Anziehen, sondern eine textile Hülle, in der man sich wohlfühlen muss.

 

Zwölf Jahre lang hat sich die gelernte Bauzeichnerin – nach längerem Engagement am Reißbrett – in einem eigenen Laden in Stuttgart wohlgefühlt. Doch dann waren die Nadeln irgendwie heiß gelaufen, und Silvia Grosse fühlte sich ausgebrannt. Deshalb wurde der Laden abgekettet. Denn abgesehen von vielen Beratungen und eigenen Kreationen erledigte die Woll-Designerin auch immer wieder zusätzlich Aufträge fürs Staatstheater. „Wie stehen Sie zum Thema Ritter?“, wurde sie kurz nach der Geschäftseröffnung von einem Mitarbeiter des Großen Hauses gefragt. Da die Knäuel-Expertin davon ausgeht, in einem früheren Leben selbst einmal ein Kettenhemdträger gewesen zu sein, fiel ihr die Antwort nicht schwer, und so kam sie zu einem ihrer schönsten Aufträge: Kostüme für zehn Ballett-Figuren zu stricken. Jedes mit eigener Form und Einfärbung. „Das Schwierigste“, erzählt die 55-Jährige, seien „die Suspensorien“ gewesen. Das war ein längeres Getüftle, und nächtelange Einsätze waren an der Tagesordnung. „Wenn man euphorisch ist und mit Leib und Seele dabei, dann klappt das“, beschreibt die Frau mit der besonderen Masche ihre damalige Stressbewältigung.

Grosse strickt dem Kunden sein Wunschtextil auf den Leib

Dennoch fühlt sie sich inzwischen in ihrem Dreiviertel-Job in einem Stuttgarter Einrichtungsgeschäft wohl. Dort kann sie ihre Kreativität ausleben, Kunden künstlerisch inspirieren – und dennoch privat Strickaufträge erledigen. Ganz nach den individuellen Wünschen der Auftraggeber. Dann werden Farbe, Material und Schnitt ganz bewusst ausgewählt, genau das, „was der Mensch braucht und was ihm genial passt“. Der Kunde sagt einfach, wie er sich im neuen Wollwerk, in einer seidenen Hülle, in einem Baumwoll-Arrangement oder in einer Materialmischung fühlen will – und Silvia Grosse strickt ihm sein Wunschtextil auf den Leib.

Dabei sieht sie keine Diskrepanz zu ihrem gelernten Beruf als Bauzeichnerin: „Bei beiden geht es um das Gestalten, es hat mit Formen und Proportionen zu tun.“ Auch mit den klappernden Nadeln werden Linien und Nähte gesetzt, um für Akzente zu sorgen: „Ich mache Strick-Architektur.“ Die sie auch immer wieder für den künstlerischen Bereich entwerfen darf.

Der jüngste Auftrag zum Beispiel kam vom Fernsehen: Für den Film „Schwestern“, der im Frühjahr anläuft, durfte Silvia Grosse das Thema Bienen mit Garnen und Nadeln umsetzen. Nach zahlreichen Maschenmix- und Materialtests hat die Dame aus Sillenbuch schließlich 17 Textilien im Ringellook hergestellt – ohne dass ihr beim Stricken schwindlig wurde. Wobei sie bei einfacheren Partien auch schon mal eine Strickmaschine benutzt.

„Meine Seele sucht ihren Ausdruck in diesem Medium“

Aber ansonsten schätzt der Shiatsu-Fan die angenehme Wirkung von klappernden Nadeln: „Die Umgebung beruhigt sich, wenn ich stricke, auch ich selbst.“ Auch wenn sie ihre Cousine in Fellbach besucht, hat sie ihr Handwerkszeug dabei. Als Fachfrau kann Silvia Grosse sogar beurteilen, wie sich ein handarbeitendes Vis-à-vis fühlt: „Man sieht einem strickenden Menschen an, wie es ihm geht, das ist wie eine Handschrift.“

Nichts Handschriftliches, sondern etwas Bestrickendes möchte Silvia Grosse, die seit ihrem fünften Lebensjahr an den Nadeln hängt, irgendwann auch noch mal schaffen: Eine Strickskulptur schwebt ihr vor. So richtig luftig leicht von der Decke hängend. Doch dieses zeitaufwändige Projekt ist noch in Vorbereitung. Solange strickt die Sillenbucherin was gewünscht wird. Wenn sie das kann, ist alles im Lot: „Meine Seele sucht ihren Ausdruck in diesem Medium“, sagt sie. „Wenn ich nicht stricken und gestalten kann, gehe ich an meinem Leben vorbei.“