Heidi Käser: Stricken ist wieder in Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Sie tun es in der Stadtbahn, im Café, auf der Parkbank, im Zug und vor dem Fernseher auf dem heimischen Sofa sowieso: Frau strickt wieder, Mann manchmal auch. Mit Hingabe, Kreativität und einer neu entdeckten Lust an Handarbeit. Denn Stricken ist jetzt Lifestyle. Bestrickend, dieser Trend.

Stuttgart - Erinnern Sie sich? Als die Grünen in der politischen Landschaft der Bundesrepublik auftauchten, übertönte auf ihren Parteitagen das Klappern der Strick-nadeln fast die Beiträge der Redner. Das Ergebnis des fleißigen Nadelwerks gehörte auch zum modischen Erscheinungsbild der Ökos. Nun war jüngst von Gerlinde Kretschmann zu hören, dass sie ihren Mann, den Landesvater Winfried Kretschmann, zu Weihnachten mit einem selbst gestrickten Pullover überrascht hat. Womit sie als modische Trendsetterin gelten kann.

Wir hoffen sehr, dass Winfried Kretschmann das gute Stück auch wirklich trägt. So vorbildlich würdigt nämlich längst nicht jeder Ehemann die Kreationen seiner Frau. Renate Sülzle, die sich gerade im Fachge-schäft Maschenzauber bei Petra Langer Nachschub an Material und Ideen holt, darf ihren Mann nicht bestricken. „Er sagt, er muss noch unter die Leute“, erzählt die 68-Jährige lachend. Selbstgestricktes passt nicht zum Business-Dresscode.

Männer sind nicht immer leicht zu überzeugen

Roswitha Maier und Ilona Lech, die sich fast jeden Nachmittag mit Strickschwestern in gemütlicher Runde im BK Wollgeschäft von Heidi Käser in Birkach treffen, weil es daheim viel langweiliger sei, holen sich bei ihren Männern ebenfalls einen Korb. Gut, gibt es eben nur Socken. Dafür sind Töchter, Nichten und Enkel umso dankbarere Abnehmer. Da sollten sich die Herren ein Beispiel an Thilo Reichert nehmen: Der Datenschutzbeauftragte Schleswig-Holsteins führt stolz sogar das Ergebnis seiner eigenen Produktion vor.

„Zu mir kommen nicht nur Frauen jeden Alters von zehn bis 90 Jahren“, versichert Petra Langer. Sie hat auch männliche Kunden, die zu den Stricknadeln greifen. Und sich in den Strickrunden, die jeden Dienstag stattfinden, unter die Damen mischen. Um Anleitung und Anregungen zu bekommen, Erfahrungen auszutauschen, neue Muster und Modelle auszuprobieren. Das hat fast was von biedermeierlicher Nostalgie. Nicht spießig, sondern spaßig. Mit Lust an Kreativität und Individualität in netter Gesellschaft.

„Ich stricke ja schon mein ganzes Leben lang“, versichert Heidi Käser und führt nebenher vor, wie Double-Face-Strickerei oder ein vielfarbiges Tuch mit Wellenmuster zustande kommen. In ihren Ohren baumeln Mini-Garnrollen, und ihren Laden, der in der Ranking-Liste eines einschlägigen Blogs gerade zu den zehn schönsten in Deutschland gekürt wurde, hat sie als großzügige Spielwiese für ihr Hobby gestaltet. Mit der großen Sitzecke, in der sie den Stuhllehnen kunterbunte Manschetten verpasst hat.

53-Jährige von der Strick-Guerilla angesteckt

Denn seit die fröhliche 53-Jährige von der Strick-Guerilla gelesen hat, die zuerst in New York Bäume, Zäune, Straßenschilder mit Strick-Chic verschönert hat, ist nichts mehr vor ihrer Verpackungslust sicher. Die Säule mitten im Laden trägt ein grasgrünes Kleid aus Fransengarn, dekoriert mit bunten Blüten. Zu Weihnachten waren es noch gestrickte Lebkuchen. Nicht mehr frieren muss ein bestricktes Leiterwägele, und im Sommer kündete eine umgarnte Sitzbank vor dem Laden schon von weitem, wo die Stricklieseln anzutreffen sind. Mit Witz und immer neuen Ideen macht Heidi Käser die Handarbeit zum Event. Da kann es wie kürzlich auch sein, dass die Strickrunde auf die Schnelle Baby-Schühchen produziert. Für die Neugeborenen im Flüchtlingsheim.

Stricken ist für mich Entspannung pur“, behauptet Heidi Käser. Ilona Lech nickt dazu und verrät, dass sie nach langer Pause wieder zum Strickzeug gegriffen habe, „als ich aufgehört habe zu rauchen“. Als Entzugsstrategie gegen nervöse Finger. Nach der Devise: Stricken ist das neue Yoga.

Aber wieso ist es plötzlich wieder so trendy? „Durch die Boshi-Mützen“, klärt Heidi Käser auf. Ah ja, die Häkel-Mützen, mit denen Thomas Jaenisch und Felix Rohland, zwei Jungs aus Bayern, Furore gemacht und einen Handarbeits-Hype ausgelöst haben. „Die Boshi-Mützen sind schon wieder out“, winkt Petra Langer ab, als wir in ihrem Laden ein Miniatur-Modell der Pudelmütze entdecken.

Ponchos, Schulterwärmer, Accessoires jeder Art

Was ist nun modisch angesagt und brandaktuell? „Zum Beispiel Ponchos“, verweist Petra Langer auf ihr eigenes Modell. Oder kleine Schulterwärmer, effektvolle Hingucker durch ein Garn mit Pelzoptik. Und Accessoires wie Schals in jeder Form, vor allem die üppig um den Hals geschlungenen Loops. Oder Schultertücher, schnell fertig mit dicker Wolle und dicken Nadeln. Oder eleganter, aber auch komplizierter mit feiner Lace- und Ajour-Strickerei. Pullover sowieso, auch Mäntel. Aus einer verlockenden Vielfalt und Palette von natürlichen Garnen, wohl geordnet und sortiert in weißen Regalen, die jede Wahl schwer machen: Merino-Wolle, Baby Alpaca, Cashmere, Seide, mit Glitzereffekt, mit Pailletten, Perlchen, Fransen oder Noppen, glattfädig oder flauschig, einfarbig oder multicolor.

Petra Langer, die aus der Touristikbranche kommt und sich mit der Eröffnung des Ladens vor zwei Jahren einen Traum erfüllt hat, freut sich, dass Handarbeit das „verstaubte Image“ wieder losgeworden ist: „Stricken ist heute Lifestyle. Es spricht alle Sinne an. Und es tut was für die Seele.“