Wenn es so weiter geht, gibt es irgendwann keine Streuobstbäume mehr. Um das zu verhindern, sind die Streuobst-Guides aus Filderstadt im Einsatz. Sie erledigen mit der Schere, wozu immer weniger Leute Lust und Zeit finden.
Filderstadt - Es darf einfach nicht zu Ende gehen. Deshalb hat Wolfgang Birnbaum Scheren und Leiter vom Autoanhänger unter ein Apfelbäumchen geschleppt. Er opfert seine Freizeit, um zu erledigen, wozu immer weniger Leute Lust und Zeit finden: Der Winterschnitt steht an. Wolfgang Birnbaum und die anderen, die sich den Namen Streuobst-Guides gegeben haben, stutzen ehrenamtlich Bäume für Privatleute und für die Stadt Filderstadt. 151 Obstbäume stehen auf ihrer Liste.
„Der braucht einen Erziehungsschnitt“, sagt Walter Hartmann, der den Vormittag mit Wolfgang Birnbaum eingemummt auf der Wiese in Bonlanden verbringt. Beim Baumschnitt sei es wie mit Kindern, denen Erwachsene die Richtung weisen müssen, erklärt der 74-jährige Walter Hartmann. Die Zweige des siebenjährigen Apfelbäumchens wuchern sonst, wie es ihnen passt. Während er um den Baum trabt, den Blick prüfend ins Geäst geheftet, hat Wolfgang Birnbaum längst die Leiter aufgeklappt und ist hochgeklettert. Hier wird nicht lang gefackelt, hier wird geschafft.
Die Überraschung: Es waren auch junge Leute dabei
Walter Hartmann ist kein Streuobst-Guide, der Bonländer ist ihr Lehrmeister. Und als dieser gehört er trotzdem fest dazu. Der Pomologe und Streuobstexperte, der vor seinem Ruhestand an der Universität Hohenheim gearbeitet hat, hat die Guides 2010 und 2011 ausgebildet. Je 25 Leute wurden damals durch zwei Kurse geschleust. Was Wolfgang Birnbaum und Walter Hartmann damals im Vorfeld kaum zu hoffen gewagt haben: Es waren auch junge Männer und Frauen dabei.
Von den 50 Menschen sind noch knapp zehn übrig, die sich in den Wintermonaten samstags auf Streuobstwiesen treffen. Dass ihm sein Nachname vorschreibt, sich für Obsthölzer einzusetzen, ist für Wolfgang Birnbaum längst ein Kalauer. Der 63-jährige Vorruheständler aus Sielmingen hat ein Herz für Apfel bis Zwetschge. Deshalb ist er nicht nur Streuobst-Guide, sondern auch Streuobstpädagoge und arbeitet mit Schulkindern.
Uneigennützige Überzeugungstäter
Die Streuobst-Guides sind uneigennützige Überzeugungstäter, sie wollen verhindern, dass die Streuobstwiesen um Filderstadt vergammeln. Und diese Gefahr ist laut Walter Hartmann sehr real. Die unzähligen Misteln, die sich überall festsaugen, sind für ihn nur ein Beweis von vielen. Wenn das einer so genau weiß, dann er. Der Fachmann hat für die Stadt Inventur gemacht und in fünf Jahren alle Streuobstbäume angeschaut und kategorisiert. Das waren knapp 25 000 Stück auf insgesamt 250 Hektar. Seine Erkenntnis: „Die Vitalität hat gewaltig nachgelassen.“
Bäume für den Obstanbau sind Hochleistungsgewächse, sie werden absichtlich klein gehalten und sollen möglichst viele Früchte abwerfen. Nach nicht einmal zehn Jahren sind sie ausgepresst und ein Fall für die Motorsäge. Hier auf der Streuobstwiese ticken die Uhren indes anders. Die Guides wollen, dass die Bäume alt werden. Ein Birnbaum kann es auf bis zu 250 Jahre bringen, Zwetschgen- und Apfelbäume auf bis zu 100 Jahre, erklärt Hartmann.
Geld für ein hehres Ziel
Leute wie die Filderstädter Guides versuchen, mit ihren Scheren gegen das Sterben der heimischen Obsthölzer anzugehen. Als Anerkennung für dieses hehre Ziel werden sie seit 2015 vom Land Baden-Württemberg finanziell unterstützt. Gruppen, die sich um eine Förderung bewerben, bekommen pro Baum 15 Euro. So auch die Guides aus Filderstadt. Mit dem Geld kaufen sie neue Scheren, Leitern und Sägen.
Der kleine Apfelbaum, mit dem Walter Hartmann und Wolfgang Birnbaum an jenem Tag begonnen haben, hat schon eine Weile keine Schere mehr gesehen. Viele Zweige sprießen in die falsche Richtung, verhunzen die Baumform. „Der muss weg“, sagt Walter Hartmann und zeigt auf einen Trieb. Wolfgang Birnbaum, der oben auf der Leiter steht, schnappt den Zweig, setzt das Schneidwerkzeug an – schnipp, schnapp, Ast ab. Die Schere quietscht im Wettlauf mit der Zeit.