Angeregtes Gespräch: Franziska Brantner und Norbert Röttgen während ihrer Debatte im Büro des CDU-Politikers in Berlin. Foto: Lipicom/Michael H. Ebner

Soll Brüssel Großbritannien beim EU-Austritt entgegenkommen? Die Grünen-Europapolitikerin Franziska Brantner fürchtet, dass es dann bald Nachahmer gibt: „Dann haut das die EU auseinander.“ CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen will von solchen Ängsten nichts wissen.

Stuttgart - Gut zwei Jahre nach dem Brexit-Referendum gehen die Verhandlungen über einen Austritt Großbritanniens aus der EU in die entscheidende Runde. Soll Brüssel den Briten dabei helfen, die ärgsten Nachteile des Austritts abzufedern – oder soll die EU hart bleiben, um Nachahmer abzuschrecken? Die Grünen-Europapolitikerin Franziska Brantner und der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag Norbert Röttgen (CDU) vertreten dazu ganz unterschiedliche Meinungen.

Frau Brantner und Herr Röttgen, die meisten Deutschen sind entweder frankophil oder anglophil. Da Sie beide in Rheinnähe geboren sind – die eine in Lörrach, der andere in Meckenheim bei Bonn – sind Sie mutmaßlich eher Frankreich-Freunde. Stimmt’s?

Brantner: Ich bin französisch geprägt als ehemalige Schülerin des Deutsch-Französischen Gymnasiums in Freiburg und durchaus frankophil. Aber ich schätze auch das Angelsächsische, nicht zuletzt durch mein Jahr an einer englischen Universität.

Röttgen: Meine Vorfahren waren teilweise sogar französische Staatsbürger. Ich würde mich trotzdem eher als anglophil beschreiben, auch wenn es Frankreich und Deutschland sind, die Europas Kern bilden.

Gut zwei Jahre nach dem Brexit-Referendum naht die entscheidende Verhandlungsphase. Halten Sie es da mit dem berühmten Franzosen Asterix und sagen: Die spinnen, die Briten – sollen sie doch gehen?

Brantner: Ich habe vor dem Referendum eine „We would miss you“-Kampagne für Großbritannien mitorganisiert. Den Austritt halte ich nach wie vor für falsch. Ich würde nur gerne mal wissen, welchen Brexit die Briten konkret wollen.

Röttgen: Nach vierzig Jahren engster Verbundenheit und geteilter Souveränität ist eine Trennung nicht so einfach. Hinzu kommt: Die Briten waren lange felsenfest davon überzeugt, dass wir Deutsche der EU ganz schnell mit einem bilateralen Deal in den Rücken fallen würden, um weiter unsere Autos auf ihrer Insel zu verkaufen. Das ist nicht passiert. Aber so oder so bleibt der Brexit ein Desaster – ich hoffe weiter, dass er irgendwie noch abgewendet wird.

Brantner: Die Hoffnung auf ein zweites Referendum stirbt zuletzt. Tatsächlich knirscht es in Großbritannien ja gewaltig, seit Populismus auf Realität trifft. Ich war auf dem letzten Tory-Parteitag und habe Bauern getroffen, die alle für den Brexit waren. Aber sie wollten plötzlich die EU-Herkunftsregeln behalten, damit Whisky und Corned Beef nicht bald von Bauern anderswo produziert werden. Lachszüchter pochten auf die Beibehaltung der EU-Wasserschutzregeln; sonst seien die Flüsse bald wieder zu dreckig für ihre Fische.

Röttgen: Die Briten wollten schon immer zugleich drinnen und draußen sein.

London hat von Anfang an versucht, die EU zu spalten und mit Berlin ins Geschäft zu kommen. Schaffen die Briten das jetzt in der Schlussphase?

Röttgen: Nein, es ist für uns ein eherner Grundsatz, dass wir keine bilateralen Deals auf Kosten der EU machen. Das Funktionieren Europas ist unser höchstes nationales Interesse, weil es uns mehr als allen anderen Mitgliedstaaten nutzt. Einheit ist in dieser Frage sowohl taktisch richtig als auch der entscheidende europäische Wert. Aber wir dürfen uns auch nicht dahinter verstecken, sonst fahren wir die Probleme an die Wand. Seit der Brexit Realität ist, reiten wir sehr auf der Untrennbarkeit der vier Freiheiten in der EU von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Personen herum – eine Formel, von der ich zuvor kaum gehört habe. Wir müssen da flexibler werden. Mein Eindruck ist, dass die Bundesregierung das ähnlich sieht.

Brantner: Leider. Die Bundesregierung vertritt jetzt schon länger eine weichere Linie. Aus meiner Sicht ist sie viel zu weich.

Was meinen Sie konkret?

Brantner: Zum Beispiel der Umgang mit zukünftigem Streit, also einer unterschiedlichen Interpretation von Gesetzen. Heute regelt das in letzter Instanz der Europäische Gerichtshof. Die EU hat zuerst darauf gepocht, dass dieser auch nach dem Brexit weiter zuständig ist. Nach Ablehnung der Briten schlug man einen eigenen Streitbeilegungsmechanismus vor, bei dem jede Seite einseitig das EU-Gericht für eine Meinung anrufen kann. Jetzt hat man akzeptiert, dass dies nur mit Zustimmung der britischen Seite geschehen kann, also nie. Das ist Justiz à la carte. Paris wollte das nicht, aber Berlin war in hohem Maße entgegenkommend.

„Ich teile diese Ängstlichkeit überhaupt nicht“

Herr Röttgen, nach ihrem Denkansatz gehören die vier Binnenmarktfreiheiten nicht zwingend zusammen?

Röttgen: Ich finde, dass für Güterhandel, Dienstleistungen, Kapitalfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit durchaus verschiedene Regeln gelten können. Wenn wir am Dogma der Untrennbarkeit festhalten, gibt es nur ein Alles oder Nichts.

Meinen Sie, so würde die schwierige Irland-Frage gelöst – indem man den freien Austausch von Waren erlaubt, den Briten aber keine Freizügigkeit, also den Zuzug, von Personen aufzwingt?

Röttgen: Wenn wir uns mit den Briten darauf verständigen, dass die Binnenmarktregeln für den Güterverkehr weiter gelten - und zwar dynamisch und ohne, dass sie Einfluss auf die weitere Gesetzgebung nehmen können - und wenn sie zugleich eine Schiedsinstitution für Streitfragen akzeptieren, dann ist das Irlandproblem gelöst. Dann können wir die nächste Frage anpacken.

Brantner: Das ist Quatsch. Es geht bei der Irland-Frage ja nicht nur darum, dass Rinderhälften über die Grenze kommen, sondern es geht auch um den Zahnarzt und die Blumenverkäuferin und ihre Arbeitsplätze auf beiden Seiten der Grenze. Nach dem mühsam errungen Frieden dort, ist es extrem wichtig, dass Iren wie Nordiren weiterhin wohnen und arbeiten können, wo sie wollen. Man kann da Kompromisse eingehen, aber man kann nicht so tun, als würde man mit einer reinen Zollunion für den Güterverkehr alle Probleme aus der Welt schaffen.

Frau Brantner, was ist der Hauptgrund für Ihre grundsätzliche Härte?

Brantner: Wenn ein Land die EU verlassen kann, dabei die Vorteile der Mitgliedschaft behält und die Pflichten los wird, dann kann das nur als grundunfair wahrgenommen werden, dann haut das die EU auseinander.

Röttgen: Ich teile diesen Kleinmut und die Ängstlichkeit überhaupt nicht. Es ist nicht vorteilhafter aus der EU auszutreten, als drin zu bleiben – egal mit welchem Deal. Ich sehe auch kein zweites Land, dass diese Schnapsidee der Briten nachmachen wollen würde.

Aber die Wettbewerbsvorteile, die Frau Brantner beschreibt, wären für die Briten doch real?

Röttgen: Ja sicher, das wäre vielleicht nach außen hin auf den ersten Blick attraktiv. Aber hier glaubt doch hoffentlich niemand, dass ein Dumpingstaat ohne ordentliche Öko- und Sozialstandards das Nonplusultra ist! Was ist denn das für ein Selbstbewusstsein? Wir machen diese Standards doch nicht, um die Wirtschaft zu drangsalieren, sondern weil das ein Erfolgsmodell für die Bürger unserer Länder ist. Der Austritt hingegen ist kein Erfolgsmodell. Aber die Briten haben jedes Recht, ihn trotzdem zu vollziehen.

Brantner: Den „Kleinmut“ weise ich entschieden zurück. Ihre Position in dieser Frage, die auch die der Regierung zu sein scheint, ist fahrlässig und ohne Weitsicht. Abgesehen davon können die Briten natürlich machen, was sie wollen. Aber wir können darauf auch reagieren, wie wir wollen.

Was ist denn aktuell die Lage am Verhandlungstisch?

Brantner: Um eine harte Grenze in Irland zu verhindern, ist die EU bereit, den Briten eine Zollunion anzubieten mit offener Grenze zu Irland. Das bedeutet de facto voller Zugang zum Binnenmarkt via Nordirland ohne Binnenmarktregeln. Die Gefahr ist riesig, dass unser Markt für Dumpingprodukte geöffnet wird.

Röttgen: Noch ein Grund, warum ich anglophil bin: Die Briten sind keine Idioten. Deshalb wandeln sie ihr Land auch nicht in einen Dumpingstaat a la Singapur mitten in Europa um.

„Ich will, dass die EU hart bleibt“

Sie glauben nicht an eine solche Strategie?

Röttgen: Ökonomisch schadet der Brexit den Briten. Mit welchen Billigprodukten sollen sie denn hier den Markt erobern? Mir fällt keines ein. Die Briten produzieren doch nichts. Stark sind sie nur bei Dienstleistungen – vor allem im Finanzsektor.

Brantner: Die Torys haben bei ihrem Parteitag dauernd von chinesischen Investoren geschwärmt, die zu supergünstigen Konditionen auf der Insel für den EU-Markt produzieren lassen wollen.

Röttgen: Jetzt glauben Sie schon die wilden Versprechungen auf einem Tory-Parteitag.

Brantner: Leider machen Populisten ihre Versprechen wahr, sie setzen um was vorher alle als populistischen Mist abgetan haben. Das sehen wir doch gerade auch mit Trump in den USA. Diese Eventualität nicht zu berücksichtigen ist einfach unverantwortlich. Irgendwas müssen die Briten ja auch strategisch vorhaben, weil es für sie sonst wirklich wirtschaftlich unerträglich wird.

Röttgen: Stimmt, die Briten leiden schon heute, und wenn sie draußen sind, wird es noch schlimmer.

Was also jetzt tun: auf „No Deal“ setzen?

Brantner: Nein, ich will aber, dass die EU an zentralen Punkten hart bleibt und ihren Marktzugang nur gegen die Übernahme von EU-Recht hergibt. Wenn die Briten unter diesen Bedingungen gar nicht mehr aussteigen wollten, fände ich das auch nicht schlimm…

Dazu müsste die EU bereit sein, den „No Deal“ zu riskieren?

Brantner: In Wahrheit wissen wir nicht, ob irgendein Austrittsabkommen, und sei es noch so geschmeidig, im Londoner Unterhaus eine Mehrheit findet.

Die nun diskutierte Zollunion bedeutet ja, dass die Briten keine Handelsabkommen mit anderen Ländern abschließen könnten – obwohl das den Brexiteers so wichtig ist.

Röttgen: Stimmt, eine Garantie gibt es nicht. Aber im Szenario von Franziska Brantner käme Theresa May ja mit nichts aus Brüssel zurück. „No deal“ wäre ein geopolitisches Desaster.

Wieso?

Röttgen: Großbritannien ist eines von zwei europäischen Weltsicherheitsratsmitgliedern, eines von zwei EU-Ländern mit einer ziemlich einsatzfähigen Armee und eines von zwei Ländern mit einem Geheimdienst, der zur ersten Liga zählt. Wir brauchen eine einvernehmliche Scheidung.

Brantner: Das größte geopolitische Desaster wäre eine Unterminierung oder der Zerfall der EU.

Wie soll’s jetzt weiter gehen?

Brantner: Wir brauchen Zeit für die Details, in denen bekanntlich der Teufel steckt. Notfalls müssen wir in die Verlängerung.

Wie lange ist das Fenster für Verhandlungen noch offen?

Röttgen: Ende November sollte das Austrittsabkommen vorliegen, damit die Parlamente – auch der Bundestag – noch rechtzeitig und gut informiert die notwendigen Beschlüsse fassen können.