Die SPD will die für sie sehr schwierige Zeit mit dem Hartz-IV-System überwinden. Foto: Imago/IlluPics/Imago

Der Zeitplan für das Bürgergeld steht wegen der Gegenwehr der Union auf der Kippe. Die Bundesagentur für Arbeit in Baden-Württemberg beklagt zu kurze Umsetzungsfristen. Die wichtigsten Fragen und Antworten zur „größten Arbeitsmarktreform seit 20 Jahren“.

Die „größte Arbeitsmarktreform seit 20 Jahren“, wie Arbeitsminister Hubertus Heil das Bürgergeld nennt, steht auf der Kippe. An diesem Donnerstag will die Ampel das Nachfolgegesetz zum Hartz-IV-System beschließen, damit es zum 1. Januar in Kraft tritt. Wegen der Gegenwehr der Union ist der Zeitplan fraglich. Wie bewertet die Arbeitsverwaltung das Gesetz?

Wie viel Grundsicherungsempfänger gibt es im Land? Laut der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Baden-Württemberg haben im Oktober 241 765 Haushalte mit 483 680 Personen Leistungen der Grundsicherung von durchschnittlich 949 Euro im Monat bezogen. Unter ihnen sind 53 854 Alleinerziehenden-Bedarfsgemeinschaften – deutlich mehr als vorher wegen der Ukraine-Geflüchteten.

Wie liegt die Reform im Zeitplan? Gemessen an der Bedeutung, die der Arbeitsminister dem Vorhaben gebe, „wünsche ich mir mehr Vorlauf, um es umzusetzen“, sagt Christian Rauch, Leiter der BA-Regionaldirektion, unserer Zeitung. Dazu gehöre die technische Realisierung und Gelegenheit für die BA-Mitarbeiter, sich in Ruhe einzuarbeiten. Derzeit seien sie ohnehin stark belastet, weil die Flüchtlingswelle im Schnitt ein Viertel mehr Kunden bringe.

Wie schwierig wird die Umsetzung? Rauch nennt als Beispiel den Paragrafen 15a zu den Sanktionen: Im Sinne einer täglichen Anwendung enthalte er maximale Komplexität und Bürokratie – mit der Gefahr mangelnder Umsetzbarkeit und hoher Fehleranfälligkeit. So müsse sich der Vermittler fragen, in welcher Phase er sich mit dem Bürgergeldempfänger befinde: etwa in einer Kooperations- oder einer Vertrauensphase, in der dem Betroffenen nur eingeschränkt Leistungskürzungen drohen? „Damit können Sie einen Rechtsanwalt beschäftigen“, moniert Rauch. „Das lenkt aber vom Kunden ab.“

Wie kann sich das Verhältnis von Jobcentern und Bürgergeldbeziehern verändern? Heil hat angeboten, dass die höheren Leistungssätze zum 1. Januar in Kraft treten sollen und weitere Kernpunkte dann erst ein halbes Jahr später. Dennoch: „Die Zusammenarbeit mit den Kunden wird nicht einfacher, sondern komplexer“, prophezeit Rauch. Durch das Schonvermögen, das beim Leistungsbezieher bis zu 60 000 Euro und bei einer vierköpfigen Familie bis zu 150 000 Euro betragen kann, sowie weil in den ersten zwei Jahren nicht mehr die Angemessenheit der Wohnung geprüft werden soll, kann der Aufwand punktuell aber reduziert werden.

Wie viel Fördern und Fordern braucht es? Rauch zufolge lässt sich die Frage für die Leistungsempfänger nicht einheitlich beantworten. „Da wird es Menschen geben, die sich zurückziehen und die wir schwerer fassen können – genauso welche, mit denen wir besser ins Gespräch kommen, wenn Sanktionen nicht mehr so weit vorne stehen.“

In der öffentlichen Debatte ist oft von arbeitsunwilligen Leistungsempfängern die Rede. Diesen Typus gebe es, so der BA-Regionalchef, doch häufiger seien Menschen, die wegen Problemen mit ihrer Gesundheit, ihrer Qualifikation oder dem Arbeitgeber in die Grundsicherung gerutscht seien und die mitunter unter psychosozialen Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit litten. Eher spannungsfrei verlaufe die Zusammenarbeit mit einer dritten Gruppe: Das sind etwa Studienabgänger, die nicht gleich Anschluss an Erwerbstätigkeit finden, die vorher nie gearbeitet haben und zu Hause ausgezogen sind. Die täten sich eher schwer damit, dass sie der Grundsicherung zugeordnet werden.

Einzelne Kandidaten ließen sich bisher allein mit der Androhung von Sanktionen an die Jobcenter binden. Bei einem Verzicht auf dieses Instrument in den ersten sechs Monaten werde ein solches Bemühen künftig deutlich schwieriger, meint Rauch. Es bleibe abzuwarten, ob das Ziel auch mit viel Beratung und gutem Zureden zu erreichen sei.

Was kann die Weiterbildung bewirken? Die Weiterbildung kommt Rauch in der politischen Diskussion zu kurz. So erhalten Teilnehmer von abschlussorientierten Weiterbildungsmaßnahmen 150 Euro im Monat zusätzlich – dies sei eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung, meint er. „Wenn es uns nicht gelingt, den Menschen den Sinn der Maßnahmen nahezubringen, dann funktioniert es nicht.“

Zweite Säule sei die gestrichene Pflicht zur Verkürzung von Umschulungsmaßnahmen. Damit werde eher lernentwöhnten Kandidaten eine zweite Chance geboten, einen Berufsabschluss zu erwerben. „Gerade im Hinblick auf den Mangel am Ausbildungsmarkt, ist das ein wichtiges Instrument“, betont der BA-Regionalleiter.

Die Zahl der Grundsicherungsempfänger in Baden-Württemberg lasse sich so zwar nicht aus dem Stand um 20 000 verringern. „Es wird uns aber vielleicht gelingen, im ersten Schritt 500 und im zweiten Jahr 1000 oder 1500 in den Arbeitsmarkt zu bringen.“ Jeder Abschluss verringere das Risiko von Arbeitslosigkeit und sei ein dauerhafter Erfolg. „Man hilft den Menschen und steigert das Wirtschaftswachstum, das durch Fachkräftemangel gebremst wird.“

Allerdings müsse FDP-Finanzminister Christian Lindner noch einen „kräftigen Nachschlag aus der Pulle in die Grundsicherung geben“, statt die Mittel für die aktive Arbeitsmarktförderung gegenüber 2022 zu kürzen, so Rauch. Bleibe es beim bisherigen Etatansatz, „haben wir ein schönes Gesetz ohne Geld“. Dann gehe keine Weiterbildung voran und auch keine soziale Teilhabe.