„Industriepolitische Geisterfahrt“: IG-Metall-Chef Jörg Hofmann nimmt sich die große Koalition und insbesondere die SPD-Führung vor. Foto: picture alliance / dpa/Franziska Kraufmann

Die IG Metall ist schwer enttäuscht, dass das SPD-Führungsduo nicht für die Verbrenner-Kaufprämie gekämpft hat – und erhebt massive Vorwürfe. Alarmiert zeigt sich die Gewerkschaft von zunehmenden Stellenabbauplänen in der Industrie.

Stuttgart - Das von der großen Koalition geplante Konjunkturpaket führt zu einer Belastungsprobe für das Verhältnis von SPD und Gewerkschaften. Die IG Metall äußert massiven Ärger darüber, dass das Führungsduo der Partei, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, sich nur für eine Förderung von Elektrofahrzeugen, nicht aber für eine Kaufprämie für Verbrennungsmotoren eingesetzt hat.

 

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann betonte, dass „die rigorose Ablehnung einer Unterstützung der Hunderttausende von Beschäftigten, die um ihren Arbeitsplatz bangen, mit Aussagen wie ‚Kein Cent für Benziner und Diesel‘ zu einem massiven Vertrauensverlust gegenüber der Sozialdemokratie führt“. Es herrsche „Enttäuschung, dass nicht industriepolitische Verantwortung, sondern die Demoskopie das Handeln der SPD-Spitze bestimmt hat“, sagte er der „Augsburger Allgemeinen“.

Unter den Beschäftigten herrsche ohnehin Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. „Man darf die für Deutschland so wichtige Branche mit direkt und indirekt über zwei Millionen Beschäftigten nicht in einer industriepolitischen Geisterfahrt gegen die Wand fahren“, setzte Hofmann nach. „Jeder Industrie-Arbeitsplatz, der in einem Hochlohnland wie Deutschland verschwindet, kommt nicht wieder.“

Zitzelsberger fordert ein „Nachsteuern“

„Viel gehört – leider falsch reagiert“, rügte in Stuttgart der baden-württembergische Bezirksleiter Roman Zitzelsberger die beiden Vorsitzenden mit Blick auf die vielfältigen Gespräche, die es – teils mit Vertretern der Wirtschaftsverbände und etwa Daimler-Chef Ola Källenius – im Hintergrund gegeben hätte. Den SPD-Landesvorsitzenden Andreas Stoch nahm der Bezirksleiter ausdrücklich aus.

Die Elektroprämie, der Ausbau der Ladeinfrastruktur oder die Förderung von Wasserstoffantrieben – dies alles sei eine gute Sache, sagte Zitzelsberger. Dennoch habe das Konjunkturpaket „keine Lenkungswirkung“ für die Produkte der Metall- und Elektroindustrie. Die Mehrwertsteuerabsenkung um drei Prozentpunkte sei für einen Autokauf „per se zu wenig, um einen Hauptanreiz zu bieten“.

Die IG Metall hatte eine „klare Verbindung“ von Kaufprämie und CO2-Reduktion angeregt, um den Absatz der effizientesten Benziner- und Dieselmotoren anzuschieben. Ein Bonus auch für Verbrenner „wäre die bessere Variante gewesen, weil sie das Hier und Jetzt fördert und nicht nur auf die Zukunft schielt“, sagte der Bezirksleiter. Sie hätte eine „Anzündhilfe“ sein können, um statt eines Strohfeuers bald wieder das „große Lagerfeuer“ zu entfachen. Nun sei es entschieden – die Debatte „muss jetzt beendet werden“, mahnte er, fügte aber auch an: „Man muss genau hinschauen, ob das wirkt – wenn nicht, muss in den nächsten Monaten nachgesteuert werden.“

Ausbildung droht in der Krise unterzugehen

Sehr besorgt zeigt sich die IG Metall über die zunehmenden Spar- und Stellenabbaupläne der Unternehmen. Laut einer „Blitzumfrage“ unter den regionalen Geschäftsstellen von Anfang Juni werde diese Verschärfung von 62 Prozent der Teilnehmer bestätigt. Alle anderen gingen von einer unveränderten Lage gegenüber Ende April aus. Allerdings gebe es bisher „weder Ankündigungen noch verdichtete Hinweise, dass daran gedacht wird, auch Verträge zur Beschäftigungssicherung aufzukündigen“. Die meisten Vereinbarungen auf betrieblicher und tariflicher Ebene hätten sogenannte Wind-und-Wetter-Klauseln. „Da sind durchaus Ausstiegsszenarien möglich“, sagte der Bezirksleiter. „Wir können nur ganz dringend davor warnen, die Verträge einseitig aufzukündigen.“ Als Alarmsignal sieht er es auch, dass fast 30 Prozent der Geschäftsstellen eine erschwerte Übernahme von Auszubildenden oder gar Absichten erkennen, 2021 Ausbildungsplätze abzubauen. Es dürfe sich keine Situation wie zu Anfang der neunziger Jahre wiederholen, als über mehrre Jahre massenhaft Ausbildungsplätze gestrichen worden seien – wodurch der spätere Fachkräftemangel erzeugt worden sei.

Kampagne „Solidarität gewinnt!“ gestartet

Auch zur Einstimmung der Mitglieder auf die nächste Tarifrunde zu Beginn des neuen Jahres startet die IG Metall Baden-Württemberg jetzt die Kampagne „Solidarität gewinnt!“. Rund 3000 Betriebsräte und Vertrauensleute haben dazu Ende Mai auf einer digitalen Funktionärskonferenz ihre aktuell zehn wichtigsten Forderungen aufgestellt.

Demzufolge hat die Sicherung der Beschäftigung oberste Priorität. Mit aller Kraft wolle man gegen Personalabbau und gegen Standortverlagerungen vor allem nach Osteuropa kämpfen. Jüngst hatte etwa der Autozulieferer Eberspächer angekündigt, die Fertigung von Standheizungen aus Esslingen bis 2022 nach Polen zu verlagern. „Da muss man sich schon am Kopf kratzen“, moniert Zitzelsberger. „Haben wir nicht gerade erst gelernt, dass es das Netzwerk Automobil angreifbar macht, wenn Grenzen plötzlich wieder hochgezogen werden?“

Weitere zentrale Forderung ist die Absicherung der Einkommen. Nach der Wahrnehmung der IG Metall sollen die Folgen der Krise „überwiegend auf den Schultern der Belegschaften abgelagert werden“, sagt der Bezirksleiter. Statt einer fairen Lastenverteilung zeichne sich ein „überproportionaler Beitrag durch unsere Beschäftigten ab“. Deren Bereitschaft, „temporär etwas reinzugeben, ist für sie nur interessant, wenn sie wissen, dass ihr Arbeitsplatz dann sicher ist“.

IG-Metall-Basis beklagt sich über Schulpolitik

Dritter zentraler Punkt ist der Infektionsschutz. Dabei müssen „technische und organisatorische Maßnahmen vor persönlicher Schutzausrüstung gehen“, fordert Zitzelsberger. Die Kräfte, die jetzt mit Mundschutz arbeiten müssten, hätten schon Sorge vor der Hitze im Sommer.

Viel Wert legt die Gewerkschaft auch darauf, die Doppelbelastung vieler Mitglieder durch Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung abzufedern. „Beängstigend bis katastrophal“ nennt der Bezirksleiter die Situation vor allem von Frauen durch „Kind, Küche, Computer“. Es gebe in den Belegschaften die Sorge, „dass es nach dem Sommer in den Schulen so weitergeht wie vorher“. Das Kultusministerium müsse jetzt „konzeptionell nachlegen“, um die Situation gemeinsam mit Landkreisen und Schulträgern zu verbessern.