Der Metzinger Fabrikverkauf ist eine nationale Attraktion. Doch die Nachbarn werfen der Stadt vor, sie mache ihren Einzelhandel kaputt. So einfach ist die Rechnung allerdings nicht.
Metzingen - Man muss in Metzingen nichts kaufen, um auf seine Kosten zu kommen. Das billigste Vergnügen ist immer noch, Schnäppchenjäger zu beobachten.
Montagmorgen, Schneeregen, kurz nach 11 Uhr. Die junge Frau bittet ihren Begleiter, die Tüte zu halten, damit sie ein Selfie machen kann. Wo sie herkommen? Von Armani, antwortet sie auf Französisch, ehe sie das Missverständnis bemerkt. Aus Marokko, korrigiert sie lachend, über Paris und Stuttgart sind sie angereist. Was sie außerdem besuchen? Heidelberg vielleicht? Boss natürlich und all die anderen Läden. Nichts sonst. „Morgen fliegen wir wieder zurück“, sagt sie und zerrt ihren Begleiter zu Strenesse.
Ein einziger Tag wird bald nicht mehr ausreichen, um eine der größten deutschen Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. Denn Metzingen baut an. Fast 11 000 Quadratmeter sollen auf einem alten Industriegelände inmitten der Stadt an Verkaufsfläche hinzukommen. Das ist mehr, als ganz Waiblingen für Bekleidung aufbieten kann, um ein Beispiel aus der Region Stuttgart zu nennen.
Anzüge auf 8000 Quadratmetern
Der Betreiber der Outlet-City, die Holy AG, hat für die Pläne jetzt vom Regierungspräsidium grünes Licht erhalten. Hugo Boss darf mit seinem Geschäft dorthin umziehen und seine Anzüge dann nicht nur auf 5000, sondern auf 8000 Quadratmetern verkaufen. Fünf zusätzliche Outlets internationaler Luxusmarken sollen bei der Gelegenheit ebenfalls eröffnen.
Aus XXL wird dann 3XL, um in der Konfektionssprache zu bleiben. Dabei bietet die Schnäppchenstadt, wie man Metzingen selbst in Amerika nennt, schon jetzt auf 30 000 Quadratmetern verbilligte Fabrikware von Adidas bis Wolford. Und dabei pilgern schon jetzt jährlich 3,5 Millionen Besucher zu den Textiltempeln, nicht um dort Sünden-, sondern Preisnachlass zu erhalten.
Was das mit der Gemeinde und ihren 21 000 Einwohnern macht, wurde in den Medien schon hinlänglich beschrieben. Die meisten Einheimischen arrangieren sich gut mit der Zweiteilung in Alt- und Einkaufsstadt, sofern man ihnen nicht die Garage zuparkt – was Schranken in den Anwohnerstraßen mittlerweile unterbinden. Das Outlet-Geschäft bedeutet schließlich Arbeitsplätze und Gewerbesteuer.
Seilbahn über den Ladendächern
„Und außerdem“, so sagt OB Ulrich Fiedler, „sollen ja auf dem alten Industrieareal noch viele andere schöne Dinge entstehen.“ Das Flüsschen Erms werde zum Beispiel freigelegt. Vor drei Jahren hat ein Bürgerforum sorgsam aufgelistet, was alles auf den sechs Hektar entstehen könnte – bis hin zu einer Seilbahn über den Ladendächern.
Weniger interessiert hat dabei die Frage, was der Fabrikverkauf für Metzingens Nachbarn bedeutet. Denn Städte wie Reutlingen, Tübingen und Nürtingen verwahren sich vehement gegen die Erweiterungspläne, weil sie Nachteile für ihren Einzelhandel und ihre Kernzonen erwarten. Der Kaufkraftverlust durch die Outlets, so argumentieren sie, setze ihnen schon jetzt zu.
Doch im Regierungspräsidium fanden sie damit kein Gehör. Auf mehr als hundert Seiten legt die Behörde vielmehr dar, warum die Bedenken unbegründet sind und die ansonsten so strengen Vorgaben für die Landesentwicklung hier nicht greifen.
Bereits heute kämen zwei Drittel der Kunden von außerhalb Baden-Württembergs, lautet ein zentrales Argument. Wer die Prozessionen beobachtet, die vom Bahnhof mit leeren Trolleys losziehen und mit voll gestopften wieder zurückkehren, kann daran keinen Zweifel haben. „Meinen Sie denn, der Chinese kauft in Nürtingen ein, wenn wir hier nicht erweitern?“, fragt Friedrich Schmid, Metzingens letzter Bekleidungshändler, der kein Outlet betreibt.
Im Behördendeutsch klingt dieses Argument so: „Die Ausrichtung auf einen überregionalen beziehungsweise internationalen Kundenkreis lässt im Nahbereich keine raumordnerisch bedenklichen Auswirkungen erwarten.“ Das Regierungspräsidium stützt sich dabei auf ein Gutachten, das für Reutlingen maximal 5,6 Prozent Umsatzrückgang prognostiziert, für Tübingen und Nürtingen noch weniger. Erst ab zehn Prozent gilt die Beeinträchtigung als relevant.
Das Ladensterben befeuert?
Den Tübinger Oberbürgermeister bringen solche Aussagen auf die Palme. Die Behörde genehmige die Erweiterung, obwohl sie doch selbst einen Verstoß gegen Ziele der Landesplanung feststelle, wundert sich Boris Palmer: „Der Innenstadthandel ist schon durch das Internet gewaltig unter Druck, jeder weitere Kaufkraftabfluss kann ein Ladensterben auslösen.“
Dass die neuen Shops nur Ware von Boss und anderen Luxusherstellern verkaufen dürfen, hält er für ein Trostpflaster. Denn wenn Boss seine alten Verkaufsflächen räumt, könne dort einziehen, wer wolle. „Salamitaktik“ wirft er den Metzingern vor. Sie erweiterten den Fabrikverkauf Stück für Stück, „und das Regierungspräsidium schlüpft in die Rolle des Metzgers“.
Die Wurst ist auch deshalb so pikant, weil der Tübinger Regierungspräsident Hermann Strampfer (CDU) seine Entscheidung ausdrücklich mit dem Stuttgarter Infrastrukturministerium abgestimmt hat – und dort gibt Palmers Grünen-Parteifreund Winfried Hermann den Ton an.
Weil aus dem Reutlinger Rathaus ähnliche Töne dringen und selbst große Bekleidungsfilialisten wie Zinser vor den Folgen warnen, ist der Metzinger OB um Schadenbegrenzung bemüht. „Ich werde Frau Bosch und Herrn Palmer das Angebot machen, gemeinsam nach Möglichkeiten zu suchen, einen Konsens zu finden“, sagt Fiedler.
Eine davon wäre zum Beispiel, den Tourismus gemeinsam voranzubringen: „Viele Regionen wären doch froh, 3,5 Millionen Tagesgäste zu haben“, sagt der Rathauschef. Das könne man nutzen. Schon jetzt profitiere ja die gesamte Region einschließlich Stuttgart von den Übernachtungsgästen, rechnet Fiedler vor.
Dass Boss und Co. für den Niedergang der Innenstädte verantwortlich ist, will der OB schon gar nicht unterschreiben: „Andere Faktoren wie das Internet üben doch einen viel größeren Druck aus.“ Er habe ja Verständnis für die Kollegen, aber das Problem der Innenstädte sei vielschichtiger und keineswegs begrenzt auf Tübingen/Reutlingen/Nürtingen.
Das sieht grundsätzlich auch der Einzelhandel so. Dessen Überlegungen zur Frage, wie man die Innenstädte aufwertet, füllen mittlerweile ganze Regale. Mal werden Jazzkonzerte, mal neue Lampen, mal Verschönerungsaktionen empfohlen. Erst zum Jahresbeginn trat ein Landesgesetz in Kraft, das Stadtquartieren erlaubt, für Verschönerungs- und Aufwertungsaktionen eine Umlage von den Händlern zu verlangen. Tübingens OB Palmer schlug kürzlich sogar vor, die Sonntagsruhe zu lockern, da die Menschen sonst eben online einkauften.
Doch der Umsatzkuchen wächst nur unwesentlich. Jedenfalls nicht im selben Maß, wie die Verkaufsfläche in den Städten zunimmt. Die habe sich seit 1990 nämlich glatt verdoppelt, sagt Sabine Hagmann, die Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbands: „Die Flächenproduktivität sinkt, da können kleine Läden nicht mithalten.“
Allein in Stuttgart kamen im vergangenen Jahr Zehntausende Quadratmeter hinzu (Milaneo, Gerber): Auch das dürfte man bei Metzingens Nachbarn spüren. Hagmann hält den Einfluss der Outlet-Shops zwar für unterschätzt, sagt aber auch: „Einen Königsweg aus der Misere gibt es nicht.“ Notwendig sei, dass alle an einem Strang ziehen: Händler, Bürger und Kommunalpolitiker.
„Bei uns in Reutlingen wurde doch lange nichts gemacht“, meint ein älteres Ehepaar, das mit einer Plastiktüte voller Lindt-Schokolade Richtung Parkplatz zieht. Auch in Tübingen sind Kritik und Selbstkritik zu hören. „Bei uns gibt’s so viel Graffiti, da fühlen sich die Kunden nicht mehr wohl“, sagt Susanne Lüllich, CDU-Stadträtin und Inhaberin eines Bekleidungsgeschäfts. Und parken könne man auch nicht kostenlos.
Metzingen ist also auch ein Sündenbock für eigene Versäumnisse. Und doch kann man die Stadt nicht lossprechen – mit ihren mehr als 60 Outlet-Shops, Tausenden von Parkplätzen und Zusatzbonbons wie der Betreuung von Kundenkindern. Zumal die kritische Masse mittlerweile so groß ist, dass immer mehr Marken dort präsent sein wollen. Oder schneiden die Metzinger keine weitere Salamischeibe mehr ab? Ist nun Schluss mit den Erweiterungsplänen? „Ich habe ja keine Glaskugel“, sagt OB Fiedler vorsichtig, „wer weiß schon, wie die Welt in zehn Jahren aussieht.“
Ob es ihn in zehn Jahren noch gibt, weiß auch Friedrich Schmid nicht, der einsame Segler inmitten des Outlet-Meers. Eines aber glaubt er zu wissen: „Viele Kunden wollen gar keine 500 verschiedene Blusen zur Auswahl, sondern nur fünf. Und sie wollen individuell beraten werden.“
Vielleicht führt dieser Kurs zum Einzelhandel zurück.