Schon der unlängst im Kino gestartete Film „Der junge Häuptling Winnetou“ war manchen ein Dorn im Auge. Nun nimmt der Verlag die Bücher dazuvom Markt. Foto: Leonine/PR

Das Buch zum Film „Der junge Häuptling Winnetou“ wollte von der Freundschaft eines Apachenjungen und eines weißen Buben erzählen. Nun muss es nach Protesten einiger Empörter vom Markt.

Was ist das Beste, das Spannendste, das Wertvollste, was ältere Kinder und junge Menschen lesen können? Vor ein paar Jahrzehnten noch hätten viele Deutsche auf diese Frage – ohne lange überlegen zu müssen – eine entschiedene Antwort parat gehabt. „Die Bücher von Karl May!“

Was die Lektürelenker sich damals nicht hätten träumen lassen: Dass der von edlen Apachen, fiesen Komantschen und schlagkräftigen deutschen Tausendsassas bevölkerte Wilde Westen, den sich der 1912 verstorbene Bestseller-Autor einst zusammenfantasiert hatte, noch einmal für einen handfesten Streit sorgen würde. Aber der ist jetzt da: Der im Kinderbuchbereich höchst renommierte Verlag Ravensburger zieht eine aktuelle Fortschreibung von Mays Werken, „Der junge Häuptling Winnetou“, sowie damit verbundene Produkte, eine Leseanfänger-Variante, ein Puzzle und ein Sticker-Buch, vom Markt zurück und entschuldigt sich dafür, sie je veröffentlicht zu haben.

Verletzte Gefühle

Auf Instagram zeigt sich der Verlag sehr zerknirscht: „Wir haben die vielen negativen Rückmeldungen zu unserem Buch „Der junge Häuptling Winnetou“ verfolgt und wir haben heute entschieden, die Auslieferung der Titel zu stoppen und sie aus dem Programm zu nehmen. Wir danken Euch für Eure Kritik. Euer Feedback hat uns deutlich gezeigt, dass wir mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt haben. Das war nie unsere Absicht und das ist auch nicht mit unseren Ravensburger Werten zu vereinbaren. Wir entschuldigen uns dafür ausdrücklich.“

Mit Kitsch und Pathos

Rund 180 Menschen sollen sich bei Ravensburger über das Buch beschwert haben. Die Geschichte drehe sich, so hatte der Verlag geworben, „um Winnetou, den Sohn des Häuptlings. Als sein Stamm in Not gerät, muss Winnetou seinen Mut unter Beweis stellen und sich gemeinsam mit seiner Schwester und dem Stadtjungen Tom in ein gefährliches Abenteuer stürzen.“ Mit anderen Worten: da wird in einer Knirps-Variante jene Verbrüderung zwischen Weißen und Indianern gefeiert, die Karl May einst mit viel Schwulst und Pathos unter Erwachsenen inszeniert hatte.

May tat das im bewussten Gegenentwurf zum realen Landraub und Völkermord, die er aus Zeitungen und Büchern kannte, auch wenn sie damals nicht mit diesen Begriffen benannt wurden. Viele Auswanderer aus dem Europa des 19. Jahrhunderts sahen die Ureinwohner Nordamerikas damals als Bestien, an deren Ausrottung sie mit Freuden oder der Not gehorchend teilnehmen würden.

Heute deuten manche Menschen Karl Mays Werk als Musterbeispiel ungehöriger kultureller Aneignung und als empörende Verharmlosung der historischen Realität. Auch die Formulierung „Leugnung des Genozids“ finden einige Karl-May-Kritiker angebracht. Tatsächlich hat Mays Westen so wenig mit der Realität zu tun wie mit Hollywoods viel knackigerem Lügenwust über Cowboys, Indianer, Gesetzlose und Sheriffs. Manche sehen gerade das aber als Entlastung der Bücher: Es seien, anders als die Realität suggerierenden Hollywood-Western, eben gut erkennbar reine Märchen.

Den „Sensitivity Readern“ durchgerutscht

Dass die Fortschreibung der May-Fantastereien in einem heutigen Kinderbuch eine Debatte auslösen wird, war eigentlich zu erwarten. Bei Ravensburger scheint man damit aber nicht gerechnet zu haben, wie die Kommunikation auf Instagram nahelegt: „Unsere Redakteur*innen beschäftigen sich intensiv mit Themen wie Diversität oder kultureller Aneignung. Die Kolleg*innen diskutieren die Folgen für das künftige Programm und überarbeiten Titel für Titel unser bestehendes Sortiment. Dabei ziehen sie auch externe Fachberater zu Rate oder setzen ,Sensitivity Reader’ ein, die unsere Titel kritisch auf den richtigen Umgang mit sensiblen Themen prüfen. Leider ist uns all das bei den Winnetou-Titeln nicht gelungen.“

Wie unterschiedlich die Wertungen und Wahrnehmungen beim Thema Indianer-Verkitschung sind, hat schon ein Streit bei der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) gezeigt. Die vergibt die Prädikate „Wertvoll“ und „Besonders wertvoll“ – oder eben kein Prädikat. So hatte die FBW auch über den Anfang August im Kino gestarteten Film „Der junge Häuptling Winnetou“ zu befinden, dessen Ableger die Ravensburger-Bücher sind. Zwar bekam der Film seinen „Besonders wertvoll“-Aufkleber, aber nur nach einer heftigen Debatte in der Jury. Einige der Prüfer reagierten auf das Werk, so die FBW selbst, „mit vehementer Ablehnung“.

Auf Twitter wird gewütet

Scharfe Debatten sind das eine. Das Zurückziehen eines Buches vom Markt aber ist etwas ganz anderes. So ist denn jetzt auf Twitter der Aufschrei wegen „Cancel Culture“, wegen Zensur durch eine Minderheit, weit lauter – und derber – als es die Kritik am fraglichen Buch je war. „Es ist so weit. Nun drehen wir völlig durch“, tweetet etwa der Hochschulprofessor Ulrich van Suntum. „Ihr könnt mich“, befindet ein anderer Nutzer, und zeigt ein Foto seiner Karl-May-Bücher.

Das sind noch die netteren Kommentare, es gibt teils wüste Ausfälle gegen die „Woko Haram“, und zuhauf Tweets der wirklich Ratlosen, die etwa fragen, ob sie sich jetzt nachträglich für die Lesefreuden und Faschingskostüme ihrer Kindheit schämen sollen. Durch die Entscheidung von Ravensburger, das Buch vom Markt zu nehmen, wurde der ernsthaften Diskussion darüber, was Dialog, was kultureller Austausch, was spielerischer Dialog, was ungehörige Aneignung und was vergiftende Lüge ist, mal wieder ein Bärendienst erwiesen.