Vor dem Neuen Schloss (hier in den Farben der Ukraine beleuchtet) darf Anna Netrebko nicht auftreten. Foto: dpa/Christoph Schmidt

Erst Corona, dann Krieg. Wie behält man Hoffnung in harter Zeit? Der Blick auf die Dinge ändert sich. Unser Kolumnist Uwe Bogen blickt aufs Open-Air-Aus für Anna Netrebko, auf Kollektivschuld und wahre Konzerte für Frieden.

Stuttgart - Gibt es für Russen eine Pflicht zur Bekenntnis? Erfordert die Invasion in der Ukraine Gewissenprüfungen in Deutschland, wie sie Kriegsdienstverweigerer einst hierzulande erdulden mussten? Opernsängerin Anna Netrebko hat viele Fans verloren, weil sie sich von Putin, mit dem sie sich in den vergangenen Jahren eng verbunden gezeigt hat, bisher nicht öffentlich distanziert.

Von der Berliner Staatsoper bis zur New Yorker Metropolitan Opera – ein Engagement nach dem anderen verliert die wohl beste Sopranistin der Welt gerade. In Stuttgart entzieht Finanzminister Danyal Bayaz dem Opernstar non grata den Ehrenhof des Neuen Schlosses. Auf einer Landesfläche dürfe sie in Stuttgart nicht auftreten, machte er den Agenten des Weltstars klar.

„Auf einer Landesfläche wird Frau Netrebko nicht auftreten“

Bei den Veranstaltern liegen die Nerven blank. Schon wegen Corona sind die Umsätze drastisch eingebrochen. Eine Besserung zeichnet sich nicht ab – zu verunsichert ist das Publikum, das noch nicht so recht Karten kaufen mag, weil sich die Pandemieregeln immer wieder ändern. Da war die Hoffnung groß, dass ein Open-Air auf dem Schlossplatz, auf der schönsten Bühne der Stadt, ordentlich Geld in die Kassen spült.

Absagen kann das Land das Konzert nicht. Es veranstaltet nicht, sondern vermietet nur. C 2 Concerts, der Veranstalter, wiederum hat Netrebkos Auftritt am 3. September bisher nicht abgesagt. Es geht um hohe Regressforderungen. Bei Krankheit der Künstlerin sind die Veranstalter versichert, aber nicht gegen fehlende politische Aussagen.

„Wir haben dem Veranstalter mitgeteilt, dass der Ehrenhof nicht fürs Konzert zur Verfügung steht“, erklärt Sebastian Engelmann, Sprecher des Finanzministers am Freitag, „auf einer Landesfläche wird Frau Netrebko nicht auftreten.“ Und weiter: „Im Übrigen gibt es keinen schriftlichen Vertrag.“ Muss vor Gericht darüber gestritten werden? Kann Veranstalter Christian Doll (C2 Concerts) doch den Vertrag vorlegen? Wird daraus ein Fall für juristische Spitzfindigkeiten?

Heftig wird unter Opernfans diskutiert, was zu tun ist

Die Welt hat andere Probleme. Es ist Krieg in der Ukraine. Da sollten wenigstens hierzulande friedliche Einigungen erreicht werden. Veranstalter und Ministeriumsvertreter treffen sich nächste Woche zu Gesprächen. Heftig wird bei Opernfans diskutiert, was zu tun ist. Die einen sagen, die Sängerin sei hart genug getroffen. Weil sie sich gegen den Krieg in der Ukraine aussprach (ohne Putin zu nennen), erhalte sie Morddrohungen aus ihrer Heimat. Andere fordern Vorbilder. Eine Frau, die in New York oder Wien lebe, müsse ein klares Zeichen setzen. Die Zeit, sich nur an der Kunst zu erfreuen, ist endgültig vorbei.

Gerade wir Deutschen wissen aus unserer Geschichte, wie falsch Kollektivschuld ist. Nicht das russische Volk ist schuld an der Invasion – es ist „Putins Krieg“, wie zu Recht oft zu hören ist. Anna Netrebko hat sich in die Nähe der Macht begeben, etwa ihren 50. Geburtstag im Kreml gefeiert. Dies rächt sich nun.

Für Michaela Russ ist moralische Integrität wichtiger denn je

Michaela Russ, Geschäftsführerin von SKS Russ, hatte in ihrem aktuellen Konzertplan nur einen russischen Beitrag geplant: Die Philharmoniker von St. Petersburg sollten in Stuttgart spielen – wegen Corona wurde die Tour Wochen vor dem Krieg abgesagt. In der Pandemie läuft Klassik wie Pop schlecht. Eine Trendwende zeichnet sich immer noch nicht ab. Die Zusammenarbeit mit Künstlern, deren moralischer und politischer Integrität sie vertrauen könne, sei notwendiger denn je, sagt Russ – auch im Bewusstsein, „dass wir nicht die absolute Wahrheit erfahren“. Statements zum Krieg werde SKS Russ jedoch weder einfordern noch diese daraufhin veröffentlichen. Wer kann schon in die Herzen schauen?

Roland Baisch sagt: „Unterschätzt nie einen Komiker!“

Musik hilft. Wichtiger als ein Weltstar zum Niederknien ist jetzt Solidarität zum Mitmachen und Mitsingen. Am Samstag gibt es in Stuttgart gleich zwei Konzerte für den Frieden. Auf dem Marienplatz spielt die junge Erfolgsband Rikas, während für Geflüchtete gesammelt wird. Auf den Stufen des Opernhauses treten Vertreterinnen und Vertreter von vier Spitzenorchestern an.

Ach, wenn diese geballte Energie bis zum Kriegstreiber im Kreml vordringen könnte! Entertainer Roland Baisch, Vater des Rikas-Sängers Sam Baisch, ist begeistert vom „beispiellosen Mut“ des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski. Einst sei er als Komiker belacht worden. „Unterschätzt nie einen Komiker!“, sagt Baisch. Humor sei eine Waffe gegen Demagogen, die nichts mehr fürchteten als glückliche, selbstbestimmte Menschen. Roland Baisch ruft dazu auf, Comedy-Benefizshows zu organisieren. Es lebe die Solidarität! Mit allen Mitteln und immer neuen Ideen gegen den Krieg!