Glaubt nicht an einen Exit vom Brexit: der Chefunterhändler der EU, Michel Barnier Foto: AFP

Der Brexit-Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, erklärt im Interview, dass Brüssel sich bei der Scheidung nicht auf ein Dumping bei den Standards einlassen wird.

Brüssel - Wohin geht beim Brexit die Reise? Die Briten werden zwar ein Drittland, sagt der EU-Chefunterhändler Michel Barnier, aber eines von herausragender Bedeutung.

Herr Barnier, es bleiben noch gut zehn Monate, um einen Deal zwischen Brüssel und London auszuhandeln. Wo stehen wir?
Seit Beginn der Brexit-Verhandlungen vor sechs Monaten haben wir auf der EU-Seite uns eine wichtige Frage gestellt: Ist London bereit, die vollen Konsequenzen eines geordneten Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU zu tragen? Seit letzter Woche haben wir Gewissheit. Die britische Premier Theresa May hat mit der ersten Vereinbarung über die Finanzen, Bürgerrechte und die Grenze in Nord-Irland die Frage mit „Ja“ beantwortet. Ich räume ein, es gilt, dabei noch viele Punkte zu präzisieren und endgültig auszuverhandeln. Dieses „Ja“ Londons ist aber wichtig. Ohne das „Ja“ könnten die Verhandlungen nicht in die zweite Etappe gehen, wo es um die Frage der Übergangsvereinbarung und der künftigen Beziehungen zwischen London und Brüssel geht.
An der bisherigen Vereinbarung zu Irland, den Finanzen und Bürgerrechten gibt es die Kritik, dass da noch einiges unklar ist. . .
Nein, da widerspreche ich. Da gibt es keinerlei Schönfärberei. Die Rechte von 4,5 Millionen EU-Bürgern, die jetzt in Großbritannien leben, oder von Briten, die jetzt auf dem Festland leben, sind sehr präzise definiert. Sehr präzise ist auch die finanzielle Vereinbarung. Ich habe mich zwar stets geweigert, Zahlen zu nennen. Darauf kommt es aber auch nicht an. Wichtig ist mir, dass London seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommt. Das Versprechen haben wir inzwischen. Was Irland angeht, da ist die Lage anders, politischer und sehr sensibel. Uns ist wichtig, dass das Karfreitag-Abkommen und die Reisefreiheit zwischen der Republik und Nordirland gewahrt bleiben. Großbritannien muss nun Lösungen erarbeiten, wie diese Bedingungen in der Praxis umzusetzen sind.
Es gibt die Forderung, dass die Briten bereits in der zweijährigen Übergangsphase ab Ende März 2019 die Nachteile eines Austritts spüren. Wo wird das der Fall sein?
Sie werden zum Beispiel keine Repräsentanten mehr in den europäischen Institutionen haben. Wir werden in dieser überschaubaren Phase des Übergangs zudem die gesamte Regelungsarchitektur der EU mit Großbritannien aufrecht erhalten: Sie müssen ihre Beiträge bezahlen, sie dürfen nicht von den EU-Vorschriften abweichen. Sie müssen sich damit abfinden, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) die oberste juristische Instanz ist.
Wohin geht danach die Reise?
London hat für die Zukunft rote Linien gezogen. London will raus aus dem Binnenmarkt und raus aus der Zollunion. Und London will nicht mehr die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) respektieren. Bislang haben wir darüber hinaus wenige Anhaltspunkte, was sich London vorstellt. Klar ist, dass die Uhr tickt. Das erste Fenster schließt sich im März, wenn die 27 Staats- und Regierungschefs beim nächsten Gipfel die Leitlinien für die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen beschließen. Ich hoffe sehr, dass wir bis dahin Klarheit seitens der britischen Regierung und auch seitens des Parlaments haben, wie der künftige Status aussehen soll.
Welche Zukunftslösung halten Sie am Ende für wahrscheinlich?
Wenn man die roten Linien von London – keine Zugehörigkeit zum Binnenmarkt und Zollunion – in ein Modell überträgt, dann sind weder die Beziehungen zur Schweiz, auch nicht zu Norwegen und noch nicht einmal zur Ukraine das Vorbild für unser künftiges Verhältnis zu Großbritannien. Dann landet man beim Modell Kanada, Korea und vielleicht noch Japan. Man kann es ergänzen um Zusatzaspekte, dann kommt vielleicht Kanada plus heraus.
Werden London und Brüssel im Bereich der Sicherheit kooperieren können?
Da bin ich mir sicher. Beim Kampf gegen den Terrorismus und in der Verteidigungspolitik halte ich eine weitere enge Zusammenarbeit für dringend geboten. Beide Seiten können sie sogar noch verstärken. Allerdings in einem anderen Rahmen. Wir können dabei nicht mehr die Werkzeuge nutzen, die die EU-Verträge vorsehen. Die Briten akzeptieren die Verträge ja nicht mehr. Man muss neue, bilaterale Formen der Zusammenarbeit finden. Die Briten werden zwar ein Drittland, aber eines von herausragender strategischer Bedeutung.
Die Briten wollen, dass ihre Banken den Zugang zum Binnenmarkt behalten . . .
Das wird nicht gehen. Ich kenne kein einzelnes Freihandelsabkommen, das die gegenseitige Öffnung für den Finanzsektor vorsieht. Wir können Wege für eine Zusammenarbeit im Bankensektor finden, so wie wir sie mit den USA und Japan gefunden haben. Um es klar zu machen: Indem Großbritannien die EU auf eigene Wunsch verlässt, also aus Binnenmarkt und Zollunion heraus geht, verlieren britische Finanzinstitute den Banken-Pass, der nötig ist, um in der EU tätig zu werden. Da gibt es keinen Spielraum, das ist am Ende reine Mechanik.
Besteht die Gefahr, dass Großbritannien künftig in den Handelsbeziehungen EU-Vorschriften unterläuft?
Wenn das Vereinigte Königreich aus dem Binnenmarkt austritt, werden wir zwei Märkte haben, die mit einander kooperieren. Die beiden Märkte sind sich zu nah, als dass wir britisches Dumping akzeptieren könnten. Die EU wird es nicht London überlassen, die Vorschriften zu definieren. Letztlich geht es bei dem Freihandelsabkommen, das Brüssel mit London abschließen wird, darum, ob Großbritannien die Standards der EU akzeptiert. Bei uns in der EU gelten bestimmte Verbraucherschutzrechte. Auch die Umweltgesetzgebung hat hohe Standards. Und es ist klar, dass ein wichtiger Handelspartner auch unsere steuerlichen Wertmaßstäbe respektieren muss. Die EU etwa hat nach der Finanzkrise über 40 Gesetzgebungsverfahren zum Teil gegen den Widerstand Londons durchgebracht, um für mehr Stabilität an den Märkten zu sorgen. Diese Erfolge werde wir uns nicht nehmen lassen. Die finanzielle Stabilität der EU ist nicht verhandelbar.
Die USA buhlen zuweilen um die Nähe zu Großbritannien  . . .
Die Briten werden sich entscheiden müssen. Wollen sie mit ihren Vorschriften nahe bei der EU bleiben, wenn das Land draußen ist? Oder nicht? Etwa im Bereich der Lebensmittelsicherheit. Wir werden jedenfalls keine Chlorhühnchen in der EU akzeptieren. Und auch keine anderen Lebensmittel, die nicht unseren europäischen Wertvorstellungen entsprechen. Bei den Vorschriften der Gesundheitsvorsorge und steuerlichen Fragen stehen ähnliche Entscheidungen an. Wir warten auf die Antwort.
Die Stimmung in Großbritannien scheint gerade zu kippen. Könnte es noch einen Exit vom Brexit geben, wenn die Briten dies wollten?
Wir verhandeln mit einer Regierung in London, die am Brexit festhält. Aus der Sache käme man inzwischen nur noch heraus, wenn die EU der 27 und London gemeinsam beschließen würden, dass der Brexit nicht stattfindet. Bis zum Brief von Theresa May im März 2017 war das anders, da war es eine rein britische Angelegenheit. Jetzt ist es ein kollektiver Prozess. Ich bleibe aber dabei: Am besten wären die Beziehungen zwischen London und Brüssel, wenn Großbritannien in der EU bliebe. Die zweitbeste Lösung ist für Großbritannien, wenn es nah am europäischen Binnenmarkt bleibt.
Schauen wir in die Zukunft: Würde Sie die Spitzenkandidatur der Europäischen Volkspartei (EVP) bei den nächsten Europawahlen interessieren mit der Möglichkeit, die Nachfolge von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker anzutreten?
Mein Engagement für und in Europa hat zwei Ursprünge. Zum einen bin ich Neo-Gaullist, zum anderen bin ich überzeugter Europäer. Patriot und Europäer. In diesem Büro kümmere ich mich aber nur um den Brexit. Ich konzentriere mich allein auf die Aufgabe, die mir EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk übergeben haben. Etwas anderes zählt für mich nicht.
Zur Person:

Michel Barnier ist Chefunterhändler der EU bei den Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien. Der 66-Jährige, der ein passionierter Alpinist ist und Präsident des Organisationskomitees der Olympischen Spiele in Albertville 1992 war, ist ein französischer Konservativer. Er hatte verschiedene Ministerposten in Paris, unter anderem war er 2004 und 2005 Außenminister.

Barnier ist überzeugter Europäer: Er hat sich schon als 21-Jähriger an der Kampagne für den Eintritt Großbritanniens in die EU beteiligt. Barnier war von 2010 bis 2014 EU-Binnenmarktkommissar. In dieser Zeit hat er viele Gesetzesvorhaben zur Regulierung des Bankensektors durchgesetzt.

Barnier, der verheiratet ist und drei erwachsene Kinder hat, gilt als aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.