Ein Leitantragsentwurf zur Vorbereitung der Europawahlen sorgt in der Südwest-SPD für Aufwallungen. Kritiker halten einer „linke Avantgarde“ vor, quasi die Abschaffung der Nationalstaaten zu fordern. Dahinter stecken auch personelle Grabenkämpfe.
Stuttgart - Der Stern verglühte, kaum dass er am politischen Firmament aufgetaucht war: Mit der Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ hatte der damalige SPD-Chef Martin Schulz auf dem Bundesparteitag im Dezember 2017 ein Ausrufezeichen gesetzt. Bis 2025 solle die Europäische Union einen gemeinsamen Verfassungsvertrag erhalten. Wer nicht mitmachen wolle, müsse die EU verlassen.
Nun bereiten sich die Genossen auf die Europawahlkampf vor, vom 23. bis 26. Mai 2019 wird gewählt – doch was bleibt von der Schulz-Idee übrig? Das von ihm propagierte Etikett gewiss nicht – es ist der SPD-Führung wohl zu gewagt. Es sei doch sehr die Frage, ob es die „Vereinigten Staaten von Europa“ mit einem gemeinsamen Grundgesetz jemals geben werde, sagte Nils Schmid, der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, unserer Zeitung. „Das Problem ist: Bei dem Begriff denkt man immer gleich an den klassischen Bundesstaat, wie man ihn aus Deutschland oder den USA kennt.“
Grenzen sollen keine Rolle mehr spielen
Insofern sei der Begriff „irreführend“ und eher eine „Chiffre dafür, dass Europa dort handlungsfähiger werden muss, wo es die Leute erwarten“: beim Zusammenhalt der Währungsunion mit einem gemeinsamen Euro-Zonen-Budget, ferner in der Außen- und Verteidigungspolitik, in der Migrationspolitik sowie bei der Bekämpfung von Kriminalität. Aus SPD-Sicht, so Schmid, müsse zudem die Durchsetzung gleichmäßiger Besteuerung eine große Rolle spielen.
Wie sich in der Landes-SPD zeigt, geht dies manchen Genossen aber nicht weit genug. „Europaradikal sein!“ ist ein Leitantragsentwurf für die Landesvertreterversammlung am 22. September in Tuttlingen überschrieben. Gleich die ersten Sätze des elfseitigen Papiers haben es in sich: „Der Mensch – losgelöst von seiner Herkunft, seiner nationalen Staatsangehörigkeit, seinem Geschlecht und seiner sexuellen Orientierung – steht im Zentrum sozialdemokratischer Politik.“ Allen Menschen, die ein Europa leben, „wollen wir den gleichen Zugang (...) zu sozialen Sicherungssystemen eröffnen“. Später heißt es, „die Sozialdemokraten streben nach einem Europa, in dem die Grenzen keine Rolle mehr spielen“ – die „Vereinigten Staaten von Europa“ seien nur eine „Zwischenetappe auf dem Weg zur Europäischen Republik“.
Von der Angst, weitere Kernwähler zu verschrecken
Kritiker schlagen Alarm – sie sehen in dem „nicht durchdachten“ Papier die Vorschläge einer „linken Avantgarde“, die in ihrer „Blase“ lebend die SPD radikalisieren wolle und den Anspruch aufgebe, Volkspartei zu sein. Am Wahlkampfstand werde man damit kaum Gehör finden. Vielmehr könnte die verbliebene Kernwählerschaft auch noch in die Flucht geschlagen werden, so die Sorge mit Blick auf die momentane gesellschaftliche Stimmungslage.
Verantwortlich für den Entwurf sind die Generalsekretärin Luisa Boos und der Europarechtswissenschaftler René Repasi, der Kreisvorsitzender in Karlsruhe war und heute in den Niederlanden arbeitet. „Gerade unter jungen Menschen gibt es eine große Zustimmung zu Europa“, sagt Boos. „Die warten aber auf Visionen der Politik.“ Eine „echte europäische Regierung“ klinge nach Zukunftsmusik, „aber wir müssen anfangen, dafür zu kämpfen“.
Kritik am mangelhafter Abstimmung
Bei einer Landesvorstandssitzung vor den Ferien fragte der Haller Oberbürgermeister Hermann-Josef Pelgrim irritiert, ob in dem Thesenpapier die Abschaffung der Nationalstaaten gefordert werde. So sah es eine deutliche Mehrheit und gab eine Überarbeitung in Auftrag. Die Kritiker fürchten aber, dass wegen der kurzen Frist bis zur nächsten Präsidiumssitzung am 7. September sowie wegen mangelhafter Abstimmung an der Landesspitze die gleichen Ideen neu formuliert wieder auftauchen.
Es geht aber nicht nur um Europa – die Kritiker zielen auch auf die Protagonisten. Verwiesen wird auf frühere Konflikte mit der Generalsekretärin um wichtige Parteitagsanträge, die – wie im November 2017 in Donaueschingen – in einem „Scherbengericht“ geendet hätten. Daraus hätte die Landesspitze für ihre Kommunikation nicht gelernt. Boos kennt den Widerstand zu gut. In der Landtagsfraktion „sind manche nicht meine allergrößten Fans“, formuliert sie feinsinnig. Doch habe sie „kein Problem mit der Fraktion“. Es sei ihr vielmehr wichtig, auch dort präsent zu sein.
Der Traum vom Mandat für Brüssel
Ihre SPD-Region hat sie als Kandidatin für die Europawahlen nominiert. Sie habe „große Lust“, das Gesicht der SPD Südbaden im Wahlkampf zu sein, sagt Boos. Der Einzug ins Brüsseler Parlament sei ihr großer politischer Traum. Doch bestünde hinter den Europarlamentariern Evelyne Gebhardt und Peter Simon keine Aussicht auf weitere Mandate für den Südwesten, so werde es 2019 noch ein Traum bleiben. Auch Landeschefin Leni Breymaier meint, dass es bereits zwei gute Abgeordnete gebe. Boos erhielte demnach als Bewerberin um einen nachfolgenden Listenplatz allenfalls die Gelegenheit, an Profil zu gewinnen.
Wohin die Reise bei der Bundes-SPD strategisch geht, zeigt der Außenpolitiker Nils Schmid auf: „Die europäische Souveränität muss nach innen und außen ausgebaut werden.“ Geprägt hat diese Begrifflichkeit der französische Präsident Emmanuel Macron – die Genossen nehmen ihn nun auf. Während die SPD, so Schmid, bei der Migrationspolitik im Dilemma stecke, sei sie sich bei Europa eher einig – derweil die Union bei diesem Thema gespalten sei. So habe die SPD die „große Chance, sich mit einem klar proeuropäischen Kurs von der anderen Volkspartei abzusetzen“ und den Rechtspopulisten etwas entgegenzusetzen. Insofern wird die Linie von Martin Schulz allenfalls der Richtung nach fortgeführt.
Spekulation über Barley-Spitzenkandidatur
Über eine bundesweite Listenverteilung feilschen die Landesverbände noch. Am 9. Dezember stellt die Bundes-SPD bei der Europadelegiertenkonferenz in Berlin die komplette Liste auf.
Der frühere EU-Parlamentspräsident Schulz wird die SPD nicht in den Wahlkampf führen. Spekuliert wird nun über eine Spitzenkandidatur von Justizministerin Katarina Barley, die einen britischen Vater und eine deutsche Mutter hat.