Im öffentlichen Dienst beginnt am Freitag die Tarifrunde. Die Gewerkschaft fordert höhere Zuschläge und mehr Freizeit. Sie will dadurch die Arbeitsbelastung ausgleichen und die Binnennachfrage ankurbeln.
Da geht es um Verteilungsgerechtigkeit: „Die Armut im öffentlichen Dienst liegt daran, dass der private Reichtum größer geworden ist.“ FDP-Ehrenvorsitzender wird Benjamin Stein mit solchen Thesen nicht. Dafür ist er Gewerkschafter, nämlich Verdi-Geschäftsführer des Bezirks Fils-Neckar-Alb, der die Landkreise Esslingen, Göppingen, Reutlingen, Tübingen und Zollern-Alb umfasst. In der bundesweiten Tarifrunde für den öffentlichen Dienst, die am Freitag in Potsdam mit der ersten Verhandlung beginnt, will die Gewerkschaft höhere Zuschläge und mehr Freizeit für die Beschäftigten durchsetzen – mit zunächst kleineren, je nach Verhandlungsverlauf auch längeren Arbeitskämpfen.
Was fordert Verdi? Im Gesamtvolumen um acht Prozent höhere Entgelte, mindestens aber um 350 Euro monatlich. Allerdings legt die Gewerkschaft den Schwerpunkt auf Zuschläge etwa für Nachtarbeit, Wechselschicht oder Bereitschaftsdienste. Das heißt, die Lohnerhöhung kann auch durch Erhöhung der Zulagen erzielt werden, geht aus dem Beschluss der gewerkschaftlichen Tarifkommission hervor. Da „bei uns alles drin ist, von der Wiege bis zur Bahre, vom Krankenhaus bis zum Friedhof“, wie Stein sagt, gebe es eine Fülle unterschiedlichster Zuschläge, folglich ein sehr kompliziertes Tarifwerk am Ende der Verhandlungen. Hintergrund der differenzierten Tarifforderung ist eine Verdi-Umfrage unter Beschäftigten, die für den öffentlichen Dienst eine hohe Quote an Arbeitsbelastung ergeben habe: Zwei Drittel der Befragten fühlten sich nach der Arbeit „leer“ und „ausgebrannt“. 56 Prozent bezweifelten, dass sie unter ihren aktuellen Arbeitsbedingungen bis zur Rente durchhalten können.
Lohnkonkurrenz mit der Privatwirtschaft
Die finanzielle Honorierung erschwerter Arbeitsumstände ist aus Gewerkschaftssicht eine Säule des Ausgleichs. Die andere ist die Reduzierung der Arbeitszeit. „Wir fordern keine kürzere Wochenarbeitszeit“, sagt Stein, „weil viele Beschäftigte sagen: ,Das bringt uns nichts.’ Wir fordern deshalb drei zusätzliche freie Tage im Jahr, für Gewerkschaftsmitglieder vier.“ Laut Stein geht es Verdi nicht zuletzt darum, die Attraktivität des öffentlichen Dienstes zu erhöhen. Die Löhne seien nach wie vor weit entfernt von denen in der Privatwirtschaft, und das führe zu dem gravierenden Personalmangel „vor allem in den Bereichen Soziales und Erziehung“, sagt Astrid Happel, Personalratsvorsitzende der Stadt Esslingen. „Wir haben auch große Probleme, qualifizierte Führungskräfte zu finden, da in der freien Wirtschaft Löhne bezahlt werden, die sich die Stadt nie leisten können wird.“
Welche Streikaktionen sind im Kreis Esslingen geplant? Zwischen der ersten Verhandlungsrunde am Freitag und der zweiten am 17. und 18. Februar will Verdi „dezentrale Arbeitskampfaktionen in kleineren Kommunen“ durchführen, sagt Stein. Für kommenden Montag schließt er Warnstreiks noch aus, beginnen könnten sie „ab Mitte kommender Woche“. Ob sie auch in größere Kommunen ausgeweitet werden, hänge davon ab, was die Arbeitgeberseite unter Vorsitz von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) in die Verhandlungen einbringe. „Wenn sie die Erhöhung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden fordern, werden wir entsprechend reagieren“, betont Stein. Er geht aber weder davon noch von ähnlich gravierenden Arbeitgeberforderungen aus. Also auch von keiner flächendeckenden Ausweitung der Arbeitsniederlegungen. Zwischen zweiter und dritter Runde (14. bis 16. März) seien allerdings größere mehrtägige Streiks möglich – je nach Zwischenergebnis der Verhandlungen. Stein rechnet mit einem Tarifabschluss in der dritten Runde. Und wenn nicht? „Dann sind wir vorbereitet – auf externe Schlichtung oder einen Erzwingungsstreik.“
Wo kann gestreikt werden? Bestreikt werden können kommunale Einrichtungen wie zum Beispiel Kitas, die Medius-Kliniken oder das Esslinger Klinikum. Im öffentlichen Nahverkehr kann es beim Städtischen Verkehrsbetrieb Esslingen (SVE) und den Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) zu Streikmaßnahmen kommen, die Bus- und Stadtbahnlinien betreffen. Für die Deutsche Bahn samt S-Bahn finden eigene Tarifverhandlungen statt. Zu dortigen Streiks gibt es noch keine Aussage.
Wann wird die Öffentlichkeit informiert? Da von Streiks im öffentlichen Dienst „leider die Bürgerinnen und Bürger betroffen sind“, sagt Stein, wolle man „die Aktionen ungefähr 48 Stunden vorher ankündigen“. Eine noch frühere Bekanntgabe lehnt die Gewerkschaft ab mit der Begründung, die Arbeitgeber hätten dann „mehr Zeit, streikbereite Mitarbeiter zu drangsalieren“.
„Die Superreichen zur Kasse bitten“
Nimmt Verdi Rücksicht auf die schwächelnde Wirtschaft? Aus Gewerkschaftssicht ja, denn nur eine steigende Binnennachfrage, also höhere Löhne und Gehälter, helfe gegen die aktuelle Exportschwäche. Im Übrigen, so Stein, gehe es um Verteilungsgerechtigkeit: „Die Superreichen mit ihren wachsenden Milliardenvermögen zur Kasse bitten, die Erbschaftssteuer gezielt erhöhen.“