Einer der großen Streiks im Jahr 2015: der Ausstand der Lokführer im Mai Foto: dpa

Deutschland ist kein Streikland. 2015 gibt es nach einer ersten Einschätzung des Streikforschers Jörg Nowak jedoch nicht nur mehr Ausstände als in den Jahren zuvor. Sie dauern auch länger.

Frankfurt - Der Ausstand der Lufthansa-Flugbegleiter ist zu Ende – zumindest vorerst. Insgesamt hat die Zahl der Arbeitskämpfe in Deutschland zuletzt aber zugenommen. „Wir haben 2015 deutlich mehr Streiks gehabt als in den vergangenen Jahren“, sagte der Streikforscher Jörg Nowak von der Universität Kassel unserer Zeitung. Seit Jahresbeginn legten unter anderem Metaller, Angestellte im Öffentlichen Dienst, Lokführer, Piloten, Postboten, Erzieher und zuletzt eben Flugbegleiter ihre Arbeit vorübergehend nieder.

Geht es nach der Zahl der Streiks und deren Dauer, sind die Deutschen zuletzt sogar so streikwütig gewesen wie zuletzt vor 22 Jahren. Im Jahr 1993 lag die Streikdauer nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit bei durchschnittlich 4,3 Arbeitstagen. Man bewege sich dieses Jahr auf einem ähnlichen Niveau, prognostiziert Nowak. Dies sei zum einen das Ergebnis der Privatisierungen im Verkehrssektor, zum anderen der immer weiter aufweichenden Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Dass die Dauer der Streiks zugenommen hat, führte der Politikwissenschaftler auf die „größere Entschlossenheit bei den Streikenden“ zurück. Aber nicht nur die Streikbereitschaft unter den Beschäftigten sei in den vergangenen Jahren gewachsen – auch die Akzeptanz in der Gesellschaft. Es habe ein Wandel stattgefunden, sagte Nowak: „Früher wurde es als Frechheit angesehen, wenn gestreikt wurde. Inzwischen ist es ganz normal.“

Den Zahlen des arbeitgebernahen Instituts für deutsche Wirtschaft (IW) zufolge ist Deutschland im europäischen Vergleich bisher aber eines der Länder mit dem geringsten Streikaufkommen. Hagen Lesch, Experte für Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen am IW, fürchtet jedoch: „Steigen Ausfalltage und Konflikthäufigkeit in Deutschland weiter an, droht ein wichtiger Standortvorteil verloren zu gehen.“