Die Degerlocher Tränke ist mehr als ein gesichtsloses Gewerbegebiet. Hinter den Fassaden an der Julius-Hölder-Straße, der Chemnitzer Straße, der Tränkestraße und dem Bruno-Jacoby-Weg warten Geschichten darauf, erzählt zu werden.
Degerloch - Gestern kam frische Ware aus Hamburg. Ein Arbeiter kurvt sie mit dem Gabelstapler heran, schlitzt die Säcke auf, und der Inhalt rieselt in einen Trichter im Boden. Die Körnchen sind grün und riechen wie der ganze Lagerraum: nach Heu und Jute, nicht nach einer Tasse Kaffee. Aber zu der werden die Körnchen. Es sind Bohnen auf dem Weg in die Rösterei nebenan. Dort zischen und brummen Maschinen um die Wette, ein Mann hat gegen den Lärm Stöpsel in den Ohren, auf einem Fließband fahren verpackte Kaffeetüten vorbei. In der Halle duftet es, als würde man die Nase in die Kaffeedose stecken.
Die Degerlocher Rösterei hat ein Geheimrezept
„Möchten Sie einen Kaffee?“, hat Birgit Krauße vorher zur Begrüßung gefragt. Die Antwort ist klar. Wenn sie von Hochland erzählt, lässt sie gern die Tasse sprechen. Die Rösterei hat rund 100 Mitarbeiter, ihre Chefin heißt Martina Hunzelmann, eine Frau „mit Kaffee im Blut“, wie Birgit Krauße sagt. Das Geheimrezept seien Jahrzehnte alte Handelsbeziehungen nach Übersee – und Genügsamkeit. Hochland bleibe bewusst überschaubar. Im Jahr würden 1000 Tonnen Kaffee geröstet. Zum Vergleich erzählt Birgit Krauße, dass die acht größten Röstereien zusammen 2000 Tonnen am Tag verarbeiten. Die Hochland-Bohnen werden zum größten Teil in Costa Rica gepflückt, von dort werden sie nach Hamburg verschifft und schließlich mit dem Lastwagen in die Tränke nach Degerloch geliefert.
Die Tränke in Degerloch? Wer sich vor Ort etwas auskennt, denkt bestimmt sofort an ein langweiliges Gewerbegebiet, an Büroklötze, Autowerkstätten, Firmenwegweiser, Straßen ohne Gesicht. So ist die Tränke – auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick verstecken sich Geschichten hinter den Fassaden an der Julius-Hölder-Straße, dem Bruno-Jacoby-Weg, der Chemnitzer Straße und der Tränkestraße.
Zum Beispiel eben die Geschichte von Antonie und Gustav Hunzelmann, die vor bald 85 Jahren an der Königstraße eine Mini-Rösterei gegründet haben und in den Sechzigerjahren in die Tränke umgesiedelt sind. Oder die Geschichte von Pro Heraldica, einem Unternehmen, das mit Ahnenforschung Geld verdient; oder die Geschichte vom Zenit-Pressevertrieb, der die Auslieferung von Titeln wie Emma oder Mercedesmagazin von Degerloch aus steuert; oder die Geschichte vom Dentallabor Oswald, wo Knirschschienen, Goldkronen oder Keramikinlays angefertigt werden; oder die Geschichte von der Feuerwache, wo viele Männer und ein paar Frauen bereitstehen, dorthin zu rennen, wo andere nur weg wollen; oder die Geschichte vom Postverteilzentrum, wo im Morgengrauen Briefe sortiert werden; oder die Geschichte von Paganino, einem unscheinbaren Geschäft an der Stelle, an der die Julius-Hölder-Straße eine Kurve macht.
Virtuell hat Paganino rund um die Uhr geöffnet
An der Eingangstür von Paganino steht, dass das Geschäft nur vier Stunden die Woche geöffnet hat – für einen leibhaftigen Besuch. Denn für den virtuellen Kunden hat Paganino rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr offen. Es ist ein Web-Shop für Streichinstrumente und so. Vor allem das „und so“ sei in den vergangenen Monaten extrem gewachsen, sagt Katarina Bolf vom Marketing. Gemeint ist damit Zubehör wie Notenbücher, Radiergummis in Form eines Notenschlüssels, Mäppchen in Klavier-Optik, Saiten, Briefpapier für Musikusse. Alles ist einsortiert in Holzregale.
Tagtäglich gehen an der Julius-Hölder-Straße 100 bis 150 Bestellungen ein, sagt Bolf, hauptsächlich aus Europa, die Reichweite ist weltweit. Zahlenmäßig verschickt der Shop mehr Zubehör als Celli, Bratschen oder Geigen. Einmal die Woche kommt ein Geigenbauer, der die Instrumente versandfertig macht, er schaut, dass die Stege richtig sitzen und zieht Saiten auf. Im oberen Stockwerk gibt es ein eigenes Fotostudio, wo die Bilder für die Website entstehen. In der Tränke ist Paganino seit ein paar Jahren. Angefangen hat der Pianist und Waldorflehrer Peter Weilacher mit zwei Mitarbeitern in einer Wohnung am Degerlocher Wacholderweg, heute schwankt die Zahl der Mitarbeiter zwischen 15 und 20.
Zurück auf der Straße. Das Gewerbegebiet ist wie leer gefegt, höchstens ein Lieferwagen braust mal kurz vorbei. Vielleicht tritt hier mal ein Arbeiter vor die Tür, um eine zu rauchen, vielleicht dröhnt dort eine Maschine hinter der Tür. Ansonsten vormittägliche Ruhe. Erst gegen Mittag wird es in der Tränke lebendiger. Frauen drehen – in der Regel in Zweiertrupps – eine Runde, Männer laufen eher allein, oftmals mit dem Handy am Ohr.
Für Schnellspachtler gibt es Stehtische
Die Mittagspause der anderen ist Lehung Lams Geschäft. Dann braten er und seine Frau in Windeseile Fleisch, portionieren Sprossen und Reis in Kunststoffschachteln und schöpfen Suppe in Keramikschälchen. Lehung Lam und seine Frau pachten den Schnellimbiss an der Tränkestraße seit einem Jahr. „Iron Wok“ haben sie den Essensstand getauft. Es läuft mal besser, mal schlechter. Der Alltag ist mühsam. „Die Küche ist viel zu klein“, sagt Lehung Lam. Sie ist so groß wie ein kleiner Bauwagen. Draußen stehen Plastikstühle unter einem Regenschutz, für Schnellspachtler gibt es Stehtische, von der Decke baumelt ein roter Papierdrache. Viele Kunden holen ihr Mittagessen nur ab und speisen am Schreibtisch. „Da gibt es eine Klimaanlage“, sagt der Koch und lacht. Davon träumt er nur.
Lehung Lam sagt: „Gastronomie ist mein Hobby.“ Früher, als er noch in Hongkong lebte, arbeitete er in einer Maschinenfabrik. Trotzdem, der Imbiss im Degerlocher Gewerbegebiet ist nicht sein Lebenstraum, vielleicht ist er eine Station. Dem Mann ist anzusehen, dass er im Leben gerackert hat. Seine Augen sind müde. Der heute 55-Jährige hatte ein Restaurant in Baden-Baden und in Fellbach. Sein Glück hat er an beiden Orten nicht gefunden.
Wer keine Lust auf Chinesisch hat, stellt sich vielleicht beim Ehepaar Wolf an. Die beiden betreiben seit 15 Jahren einen Bäckerwagen an der Ecke Julius-Hölder-Straße und Chemnitzer Straße. Sie klappen ihren Tresen schon morgens um 5.30 Uhr auf. Den Vormittag verbringen die beiden mit Kochen, denn bei ihnen bekommt der Hungrige mehr als Butterbrezeln und Pizzataschen. Heute gibt es zum Beispiel Chicken Nuggets mit Pommes oder extragroße Cheeseburger. Viel reden ist nicht drin, weil die Mittagsstunde naht.
Der Name Tränke kommt vom „Stahla Seele“
Das Gewerbegebiet Tränke ist in den 1980er-Jahren besiedelt worden. Bis 1971 gehörte es gar nicht zu Degerloch, sondern zu Möhringen. Der Name kommt von einer Viehtränke, die im Volksmund „Stahla Seele“ hieß. Den See, der so groß war wie ein Fußballfeld, gibt es heute nicht mehr. Die alten Degerlocher haben aber nicht nur verzückende Kindheitserinnerungen an das Areal südlich des Bezirks. Die Tränke ist eng mit tragischen Geschichten verwoben. So war dort im Zweiten Weltkrieg eine Flak-Stellung. Sie ist bei einem feindlichen Angriff im Juli 1944 zerstört worden, acht junge Burschen kamen ums Leben. An der Tränkestraße, auf Höhe der Firma Mädler, erinnert eine Stele an das Unglück.
Etwas weiter vorne an der Tränkestraße sitzt Brigitte Beilharz mit einem Headset in einem Glaskasten und tippt etwas in den Computer. Wenn sie aufschaut, kann sie beobachten wie Gabelstapler Getränkekisten hin- und herfahren. Und Getränkekisten gibt es hier wahrlich genug. Sie stapeln sich meterhoch in der Halle. Brigitte Beilharz koordiniert die Bestellungen und hat nur wenig Zeit. Seit 113 Jahren verkauft die Familie Beilharz in Degerloch Trinkbares, an inzwischen drei Standorten.
Sie brennen nur Schnäpse selbst, sagt Brigitte Beilharz mit allem anderen handeln sie. Zwölf Lastwagen sind täglich unterwegs auf den Fildern und in Teilen Stuttgarts. Die Großeltern ihres Mannes haben an der Großen Falterstraße angefangen, das Geschäft gibt es immer noch. Seit 15 Jahren hat Beilharz zudem einen Abholmarkt an der Chemnitzer Straße und seit neun Jahren eben die große Halle an der Tränkestraße. Und so, wie sie reden, würden sie gerne weiter wachsen. Doch dafür fehlt in der Tränke der Platz. Dann muss Brigitte Beilharz weitermachen, das Telefon klingelt. Der Durst geht nicht aus.