Das Land will schwere Unfälle wie hier auf der B 27 bei Pliezhausen Foto: dpa

Auf Baden-Württembergs Straßen sind im vergangenen Jahr 465 Menschen ums Leben gekommen. Diese Zahl soll deutlich sinken. Die Landesregierung setzt dazu künftig ein System ein, das Unfalldaten, Verkehrsmengen und den Straßenzustand zusammen auswertet.

Stuttgart - Die Zahl der Unfallopfer zu minimieren ist ein europäisches Ziel. Die EU gibt vor, dass die Länder die Zahl der Verkehrstoten von 2010 bis 2020 um 40 Prozent senken müssen. In Deutschland sind dafür die Bundesländer zuständig. Baden-Württemberg geht dabei einen komplett neuen Weg. Erstmals wird mit dem sogenannten Verkehrssicherheitsscreening (VSS) gearbeitet. Dieses neue Verfahren ermittelt flächendeckend unfallträchtige Streckenabschnitte. Es werden aber nicht allein die Unfallzahlen erhoben. Vielmehr werden sie in Zusammenhang mit dem Straßenzustand, der Straßengeometrie, der Art der Verkehrsmittel und den gefahrenen Geschwindigkeiten gestellt.

Gerhard Scholl, Leiter der Mobilen Verkehrssicherheitskommission im Verkehrsministerium, spricht von einem „komplexen, mächtigen System“. Mehrere Behörden arbeiten dabei zusammen – Polizei, Verkehrsministerium, Straßenbauamt und das Statistische Landesamt. Die Beteiligten wurden bis Mai bei den Regierungspräsidien geschult. Mit dabei waren auch Vertreter aus Bayern und Sachsen-Anhalt. Beide Bundesländer interessieren sich für das VSS.

Nun geht es an die Umsetzung: „Ab 2015 schalten wir scharf“, sagt Scholl. Ein erster Erfahrungsbericht ist für April 2015 vorgesehen. Ziel ist, die Unfallschwerpunkte für die einzelnen Verkehrsgruppen zu erkennen und zu entschärfen. So ist etwa eine Strecke, die für Pkw-Fahrer unauffällig ist, für Motorradfahrer gefährlich. „Die Fahrbahn kann sich mit der Zeit ändern“, weiß Verkehrsexperte Scholl. Bitumen etwa könne sich als schwarzer Film auf der Fahrbahn anreichern. Im Fachjargon hieße das, „die Straße schwitzt“. Bei Nässe sei sie dann spiegelglatt und Zweiradfahrer rutschten. Das neue VSS zeigt den Zusammenhang zwischen der Fahrbahnbeschaffenheit und der Fahrzeugart „Motorrad“ auf. Gibt es also besonders viele Zweiräder, die wegrutschen, rückt automatisch der Fahrbahnbelag ins Visier.

Das VSS ist Teil des Verkehrssicherheitskonzepts des Landes mit 90 Einzelmaßnahmen, das sich Grün-Rot in den Koalitionsvertrag geschrieben hat. Jetzt wird dem noch schlummernden Papiertiger Leben eingehaucht. Zehn bis 20 Prozent der unfallträchtigen Strecken sollen abgeändert werden, beschreibt Gerhard Scholl die Zielvorgabe. Dabei setzt das Verkehrsministerium Schwerpunkte: Innerorts richtet sich das Augenmerk auf die Gefahren für Fußgänger und Radfahrer, spezifisch auch für junge und alte Verkehrsteilnehmer. Auf den Landstraßen soll mehr Sicherheit vor allem für Motorradfahrer entstehen, auf den Autobahnen soll die Zahl der Lkw-Unfälle gesenkt werden.

Dazu werden von den beteiligten Behörden alle Daten erfasst. Die Polizei nimmt die Unfälle auf und speichert sie in die Datenbank ein. Sie erfasst auch, wo Geschwindigkeitsbeschränkungen nicht eingehalten werden. Dort, wo das Tempolimit nicht beachtet wird, untersucht die Polizei, an welchen Wochentagen welche Verkehrsteilnehmer am häufigsten zu schnell sind. Das Statistische Landesamt erfasst diese gesammelten Fakten. Die Straßenbauverwaltung bringt alle Informationen über Straßenaufbau und -struktur in den Datenpool ein, dazu den aktuellen Zustand der Straßen.

Eine tragende Säule des VSS sind auch Verkehrszählungen. Die werden seit vier Jahren nicht mehr von Schülern mit Block und Bleistift vorgenommen, sondern über sogenannte Leitpfosten-Zählgeräte. Die in den Leitpfosten eingebauten Sensoren unterscheiden zwischen acht Fahrzeugarten – etwa zwischen Pkw mit Anhänger, Sprinter oder Lkw mit Sattelauflieger. Die Leitpfosten-Zählgeräte erfassen automatisch das Verkehrsaufkommen und übersenden die Daten an eine Zentrale. Daraus ergibt sich ein Bild, wann welche und wie viele Verkehrsteilnehmer unterwegs waren.

Alle erhobenen Faktoren münden in Kombinationskarten, welche die Unfallschwerpunkte – und auch die volkswirtschaftlichen Kosten aus den Unfällen – auf einen Blick sichtbar machen. Damit lässt sich einfacher eine Rangfolge ermitteln, welche Streckenabschnitte am dringlichsten saniert werden müssen.

Wie schnell die unfallträchtigen Abschnitte tatsächlich umgebaut werden, ist aber noch unklar. „Bei Personal und Geld sind wir natürlich eingeschränkt“, sagt Gerhard Scholl. Das Ministerium jedenfalls mache Druck, „die andern müssen sehen, was sie leisten können“.

Auf jeden Fall stehe aber Geld zur Verfügung durch den Kurswechsel von Grün-Rot, nämlich weniger Straßen neu zu bauen und mehr in deren Unterhalt zu stecken.