Lazar Karschinierow (1877 – 1945) Foto:  

Das gute Leben, das Lazar Karschinierow für seine Familie in Stuttgart aufgebaut hatte, endete mit Hitlers Machtübernahme jäh. Der Enkel Fredy Kahn sagt, zurzeit drehe sich die Stimmung wieder. Aus unserer Serie „Stuttgarter Stolpersteine – die Menschen hinter den Namen“.

Diese eine Botschaft, die seine Eltern für ihn Ende der 1960er Jahre schriftlich festgehalten haben, hat viele Jahre keine Rolle für Fredy Kahn gespielt. Der Arzt war in sein Leben vertieft. Doch seit Kurzem gewinnt die Botschaft an Bedeutung, sie klingt jetzt wie das, was sie sein sollte: eine Warnung. Die Eltern haben geschrieben: „Lasse Dir von solchen Verbrechern nie etwas gefallen, im Falle nochmals so eine gemeine Zeit droht, verlasse Deutschland sofort.“

 

Fredy Kahn ist heute 77 Jahre alt. „Ich kriege es noch rum“, sagt er. „Um mich mache ich mir keine Sorgen, aber um meine Kinder und Enkel.“ Sie sind Juden und Nachkommen einer Familie, der die Nazis unbeschreiblich Schlimmes angetan haben. Daran denkt Fredy Kahn nicht nur, weil sich die Reichspogromnacht am 9. November wieder jährte, und dieses Datum für seinen Großvater und dessen Familie eine Zäsur bedeutet hat. Es hat auch damit zu tun, dass er von Schulklassen, denen er von seiner Familiengeschichte erzählt, zu hören bekommt, dass „du Jud“ gerade wieder zum schulhoffähigen Schimpfwort wird.

Die Neckarstraße 150 im Jahr 1942 (das Haus neben dem Flachdachgebäude). Hier wohnte Lazar Karschinierow, an den dort heute ein Stolperstein erinnert. Foto: Stadtarchiv Stuttgart

Während Fredy Kahn davon halb ungläubig, halb alarmiert berichtet, sitzt er in seinem Esszimmer in Tübingen. Er hatte Glück im Leben, es ist ihm gut ergangen. Doch er weiß, wie furchtbar man sich täuschen und wie eine Lage plötzlich kippen kann. So wie bei seinem Großvater damals, Lazar Karschinierow, an den in der Neckarstraße 150 im Stuttgarter Osten ein Stolperstein erinnert. Dessen Leben hatte sich in der Pogromnacht auf Links gedreht. Dabei hatte alles Erfolg versprechend angefangen.

Lazar Karschinierow kommt mit Mitte 20 nach Stuttgart. Geboren wurde er in Cherson, damals russisches Gebiet, heute ukrainisch und heiß umkämpfter Schauplatz in Putins Angriffskrieg. Dort hat er eine Lehre in einer Zigaretten- und Tabakfabrik gemacht. In Stuttgart findet er 1903 Arbeit, drei Jahren später beginnt er in der neuen „Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik“ und macht dort Karriere. Seine beiden Kinder, Gustav und Jeannette, sind wohl unter den ersten Schülern der Waldorfschule, die der Fabrikant Emil Molt damals gründet. Die Unfassbarkeiten, die seine Familie über Generationen prägen werden, nehmen ihren Lauf, als Lazar Karschinierow Mitte 50 ist.

Seine Eltern haben ihm eine wichtige Botschaft hinterlassen: Fredy Kahn. Foto: Sägesser

In Folge der Wirtschaftskrise wird „Waldorf-Astoria“ 1929 von Reemstma übernommen und liquidiert. Lazar Karschinierow verliert, wie mehr als 1000 andere Beschäftigte, seinen Job. Doch er und seine Familie haben das spezielle Problem, dass sie inzwischen zu Staatenlosen geworden sind. Die gerade entstandene Sowjetunion hat allen im Ausland lebenden Staatsangehörigen die Staatsbürgerschaft entzogen; sie haben nun „nur“ noch den sogenannten Nansen-Pass, den Fritjof Nansen als Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen für Leute wie die Karschinierows eingeführt hat.

Unter diesen Bedingungen eine neue Stelle zu finden ist aussichtslos. Da hilft es ihm auch nicht, dass ihm sein bisheriger Betrieb ein tolles Zeugnis ausgestellt hat. Doch Lazar Karschinierow ist niemand, der sich unterkriegen lässt. Jedenfalls nicht davon. Er macht sich 1929 selbstständig mit einem Tabakladen nebst Leihbücherei an der Neckarstraße 150 in Stuttgart-Ost. Drei, vier Jahre geht das gut, dann kippt die Stimmung mit der Machtübernahme der Nazis.

Es ist 1933, Lazar Karschinierows Kundschaft wird aktiv daran gehindert, sein Geschäft zu betreten. An manchen Tagen steht ein Wachmann vor der Tür. Am 9. November 1938 zerstören und plündern die Nazis den Laden, Karschinierow kommt für zwei Tage in Haft. Zurück kehrt ein gebrochener Mann. 1939 stirbt seine Frau an einer Krankheit, 1942 kommt er in ein jüdisches Altersheim im Kreis Göppingen, noch im selben Jahr landen sowohl er als auch seine Tochter Jeannette – sie ist damals Mitte 30 – im KZ Theresienstadt.

Mit dem Bus aus dem KZ zurück nach Stuttgart

Am 4. Mai 1945, wenige Tage vor der Befreiung von den Nazis, stirbt Lazar Karschinierow an seinen Krankheitsleiden. Am 21. Juni steigt Jeannette in Theresienstadt in einen der Busse nach Stuttgart. Im Sanatorium Dr. Katz in Degerloch erholt sie sich von Strapazen, die man sich schwerlich ausmalen kann.

Im Konzentrationslager hatte Jeannette Karschinierow einen Mann aus Baisingen bei Rottenburg kennengelernt: den Viehhändler Harry Kahn. Er hatte seine gesamte Familie durch den Nazi-Terror verloren. Er war der Einzige von einst vielen Juden im Ort, der zurückkehrte. Jeannette tat sich mit ihm zusammen, beruflich und privat. 1947 wird ihr Sohn Fredy Kahn geboren.

Die Eltern von Fredy Kahn: Harry und Jeannette Kahn Foto: privat/Judith A. Sägesser/Repro

Die Eltern haben die dunklen Kapitel der Familiengeschichte vom Sohn weitgehend ferngehalten. Aber manches war doch anders als bei anderen. Fredy Kahn kann sich zum Beispiel nicht daran erinnern, dass seine Eltern je draußen unterwegs gewesen wären, im Gasthof oder bei Vereinen. Die Prägung, die er mitbekommen habe: „Fall’ nicht auf, mach’ uns keine Sorgen“, erzählt er.

Manchmal hat der Junge mitbekommen, wie sich die Erwachsenen Fotos angesehen haben. Der Vater habe sie aus einer SS-Uniform entnommen; sie waren im Nachttisch verstaut und für ihn tabu. Mit acht oder neun Jahren habe ihn die Neugierde dann übermannt, er habe nachgeschaut. „Ich sah nur Leichenberge und abgemagerte Menschen“, sagt Fredy Kahn. Von da an habe er sich völlig zurückgenommen, „ich habe auch in der Jugend nicht rebelliert, nichts“. Fragen habe er nie gestellt, die Fotos sind inzwischen verschollen.

Den Davidstern trägt er nicht mehr offen

Obschon er persönlich nicht betroffen war, Fredy Kahn ist sich sicher, dass die Geschichte seiner Familie auf ihn wirkte und wirkt. Er habe eine melancholische Seite, die er sich nur so erklären könne. 2023 hat er eine Therapie gemacht, hat versucht, sich seinem inneren Kind zu nähern. In der Gruppe sei er sich aber etwas verloren vorgekommen. Dort seien viele junge Leute gewesen, geprägt von einer harten Kindheit. Doch ihm ging es ja gut. „Ich hatte die schönste Kindheit,die man sich vorstellen kann.“ Er sei behandelt worden „wie ein Prinz“. Er hatte ein Pony, eine Ziege, viele Spielsachen. Doch es ist eben nicht alles Gold, was glänzt.

Fredy Kahn ist in letzter Zeit vorsichtiger geworden. Er zieht an der Kette, die um seinen Hals hängt. Unter dem Hemd kommt der Davidstern hervor. Er trägt ihn nicht mehr offen. Sei es im Fitnessstudio, in der Sauna oder beim Italiener, er kann von mehreren Begebenheiten berichten, bei denen ihm offener Antisemitismus entgegengeschlagen ist. „Das ist für mich ein Alarmzeichen ersten Ranges“, sagt er. „Ich bin wachsam.“ Die Botschaft seiner Eltern erscheint in einem neuen, alten Licht.