Seit 2006 ist „Über Kunst“-Gast Valérie Favre Professorin für Malerei in Berlin Foto: Steffen Schmid

Schauspielerin, Bühnenbildnerin – Malerin. „Mein Leben war und ist ein Abenteuer“, sagt Valérie Favre. Jetzt war die Schweizer Malerin Gast der „Stuttgarter Nachrichten“-Reihe „Über Kunst“ in der Staatsgalerie

Stuttgart - Ungewöhnlich ist ihr Werdegang: Valérie Favre wird 1959 in der Schweiz geboren, absolviert eine Theaterausbildung, arbeitet als Bühnenbildnerin und Schauspielerin in Paris – und entscheidet sich in den späten 1980er Jahren für die Malerei.

Malerei als „Form von Résistance“

„Malerei“, sagt Valérie Favre im „Über Kunst“-Gespräch mit Nikolai B. Forstbauer, Titelautor unserer Zeitung, in der Staatsgalerie Stuttgart „ist eine Art von Résistance“, eine Art des Widerstandes also: „Man baut ein Bild mit anderen Medien als Fotoshop, Video, Fotografie. Ich denke, in der Malerei ist alles drin, das ist ein sehr großes Feld.“

Doppelbödige Kunstgeschichte

Euphorisch beurteilte die Fachzeitschrift „Kunstforum“ 2017 die Arbeit von Favre. Gelobt wird die Vielfalt ihrer Bildwelt, die sich einer klaren Kategorisierung entzieht, stattdessen einen Sog entwickle, der über „kunsthistorische Fieberschübe“ eine „meisterlich doppelbödige Kunst-Geschichte“ inszeniere. Macht sich hier ihre Erfahrung als Bühnenkünstlerin bemerkbar? Die kunsthistorischen Verweise – seien dies nun die Hexen von Goya, eine Position von de Chirico, Bildmomente, die von großen spanischen Malern stammen oder auch von James Ensor – zieht Favre heran wie Kostüme einer Inszenierung. „Fast wie Walt Disney“, sagt Valérie Favre und lacht. „Warum nicht? Voilà!“

Selbstmord als Thema der Malerei

Bei den Themen, für die sie sich in ihrer Malerei entscheidet, dient Valérie Favre Walt Disney aber sicher nicht als Vorbild. „Ich male auch Kakerlaken“, sagt sie. In Stuttgart ist aktuell anderes von ihr zu sehen – der Württembergische Kunstverein Stuttgart zeigt 44 Arbeiten ihrer 129 Gemälde umfassenden Serie „Selbstmord“. Sehr zentral, von Stellwänden umschlossen, geschützt, erscheinen diese Bilder als Kern der Ausstellung „Actually, the Dead are not Dead – Politiken des Lebens“, einer Fortführung der von den Kunstvereinsdirektoren Iris Dressler und Hans D. Christ erarbeiteten Bergen Assembly 2019.

Die Lebenden nähern sich den Toten

Von explizit „böser“ Malerei möchte Valérie Favre dabei nicht notwendigerweise sprechen, „aber es ist auch nicht fürs Wohnzimmer“, sagt sie. Mit ihrer Faszination für das Thema Tod ist sie kunstgeschichtlich nicht alleine; mehr noch machte sie während der zehnjährigen Arbeit an der Serie die Entdeckung, dass viele Künstlerinnen und Künstler durch eigene Hand aus dem Leben schieden. Vor allem die späteren Bilder der Serie versteht sie deshalb als Hommagen.

Bergen Assembly 2019 als Modell

In der vergangenen Woche traf Valérie Favre in Stuttgart noch einmal mit anderen Beteiligten der Bergen Assembly zusammen, setzte die Arbeit an der offen konzipierten Ausstellung fort – eine ungewöhnliche Erfahrung: „Jeder hatte seine Sprache, seine Zeit.“

Was Malerei erzählt

Valérie Favre weist, als sie von ihrer Entscheidung für die Malerei spricht, auf ihre nicht abgeschlossene Schulbildung hin. „Ich kann nicht so gut schreiben“, sagt sie, sieht hier eine Lücke. „Aber die Malerei braucht keine Worte, um Emotionen aufzubauen.“

Im Wesentlichen versteht sie sich als Erzählerin, die sich auf dem Grat zwischen Abstraktion und Figuration bewegt: „Ich benutze die Figuration, weil ich keine andere Wahl habe, meine Erzählung zu machen.“

Die „große Konstruktion“

Fläche, Farbe, Zufall sind Elemente, mit denen sie dabei umgeht. Das Bild wird zu einer „großen Konstruktion“, in der sich kunsthistorische Bezüge brechen, spiegeln, verstecken, in der ein Moment, der an Georg Baselitz zu erinnern scheint, tatsächlich unmittelbar einem Gemälde von Max Beckmann entnommen sein kann.

Den Versuch der Kunstkritik, Favres Malerei als eine Form des Reenactment, der Wiederaufführung, zu begreifen, wiegelt sie eher ab – „Wir werden alle von verschiedenen Dingen beeinflusst“, sagt sie. „Ich mache daraus eine Bühne für meine Malerei.“ Konzeptionelle Vorgehensweisen, sagt sie, seien immer schon ein Teil der Malerei gewesen, und verweist auf die komplexen Altarbilder des Mittelalters.

Schutzraum Kunstproduktion

Valérie Favre möchte es den Betrachtern ihrer Bilder nicht leicht machen. In der Schwierigkeit sucht sie Schutz und Ruhe.

Brauchen auch die Museen Schutz? Als Orte des Nachdenkens über Kunst? 2015 hatte Staatsgalerie-Direktorin Christiane Lange unter dem Titel „Grenzen des Wachstums“ hierzu eine nationale Debatte angestoßen. Favre verweist auf den Münchner Soziologen Hartmut Rosa und dessen Thesen von der „Nichtverfügbarkeit der Welt“. In der Hinwendung zur Malerei sieht sie jedoch eine neue „Lust auf Materialität“.

„Man muss immer weiter kämpfen“

Valérie Favre ist seit 2006 Professorin für Malerei an der Universität der Künste in Berlin, sie gehört dort der fünfköpfigen Jury des Fred-Thieler-Preises für Malerei an – die Arbeit auf dem großen Feld der Kunst empfindet sie auch in diesem Kontext als bereichernd. Seit 1998 lebt sie in Berlin – als „kleine Französin“ sei sie empfangen worden, sagt sie. Und doch findet sie ihren Platz in der Stadt der männlichen Künstlergrößen. „Man muss immer weiter kämpfen“, sagt sie.

Für Valérie Favre ist die Welt kein einfacher Ort. Der Satz „Alles hängt mit allem zusammen“ ist für sie zugleich Impuls wie Herausforderung. Wie auch das Ringen um die Ateliers in den Uferhallen im Berliner Wedding. „Dort steht es augenblicklich schlecht“, sagt sie. „Es ist ein Kampf David gegen Goliath.“

Signaturen der Zerbrechlichkeit

In Tagen, in denen das Coronavirus mehr und mehr das öffentliche Leben mitbestimmt, erinnert Valérie Favre zuletzt daran, dass das Zusammenleben der Menschen auch anderen Gefahren ausgesetzt ist, spricht von Arbeitslosigkeit und steigenden Mieten, von der Fragilität der Welt – ganz so, wie sie jedem ihrer Selbstmord-Bilder im Württembergischen Kunstverein handschriftlich einen Titel hinzufügte: als Signatur einer Zerbrechlichkeit.