Als Sterbebegleiterin sitzt Sandra Bretschneider oft nächtelang neben Fremden und begleitet sie beim Sterben. Foto: imago images/Martin Wagner

Sandra Bretschneider begleitet seit 14 Jahren Menschen beim Sterben. Bereits nach dem Abitur hat sich die gebürtige Musbergerin für das Ehrenamt entschieden. Was bewegt eine junge Frau dazu, den Tod in ihr Leben zu lassen? Und wie geht man mit Menschen in ihren letzten Stunden um?

Wenn Sandra Bretschneider ihre Schicht beginnt, weiß sie nicht, wie viel Zeit ihr noch mit der unbekannten Person bleibt. Der Betroffene, den die junge Frau durch die Nacht begleitet, liegt meist im Bett, ist schwach. Sie nimmt sich einen Stuhl, setzt sich daneben, bietet ihre Hand an. Für ihr Gegenüber haben die letzten Stunden des Lebens begonnen.

 

So oder so ähnlich sehen immer mal wieder die Wochenenden der 33-Jährigen aus. Seit etwa 14 Jahren arbeitet sie als ehrenamtliche Sterbebegleiterin. Den Entschluss dazu fasste sie in einem Alter, in dem Gleichaltrige sich auf Partys die Nächte um die Ohren schlagen. Während ihrer Schulzeit durfte sie den Ort für ihr Sozialpraktikum selbst wählen. „Irgendwie musste ich direkt an ein Hospiz denken“, erinnert sich die gebürtige Musbergerin zurück, „das ist schon auch krass, dachte ich mir.“ Auch ihr Umfeld war zunächst skeptisch, ob sie sich mit diesem Vorhaben nicht ein bisschen übernimmt, und hatte Sorge um die junge Frau.


Man wird auch mit dem eigenen Sterben konfrontiert

Doch der Gedanke, Menschen in ihren letzten Stunden zu begleiten, ließ Sandra Bretschneider nicht mehr los. Als sie dann im Amtsblatt von einer Ausbildung als ehrenamtliche Sterbebegleiterin las, war der Entschluss gefasst. Die junge Frau, deren Leben sich zu einem großen Teil um den Tod dreht, lacht oft, wenn sie über das Sterben spricht. Wache Augen, besonnene Ausstrahlung. Keine Spur von Traurigkeit. Was bewegt sie dazu, ihre Freizeit Fremden zu schenken, die bald nicht mehr da sind?

„Sterben ist ehrlich“, sagt Bretschneider, „das Menschsein rückt wieder in den Mittelpunkt, und oberflächliche Werte werden egal.“ Durch die Begleitungen lebe sie bewusster, fühle sich geerdet, frage sich öfter, was ihr im Leben wirklich wichtig sei und wofür sie Zeit aufwenden möchte. Die Ausbildung zur Sterbebegleiterin habe ihr außerdem dabei geholfen, sich mit ihrem eigenen Tod auseinanderzusetzen. „Das Thema Sterben und alles, was dazugehört, ist in unserer Gesellschaft zu einem Tabuthema geworden. Dabei betrifft es jeden von uns“, sagt die 33-Jährige.

Für mehr als die Hälfte der Befragten einer Umfrage des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes spielt das Thema „Sterben und Tod“ keine große Rolle. Zugleich gaben über 80 Prozent an, bereits einen nahestehenden Menschen verloren zu haben. Knapp ein Drittel fürchtet sich davor, beim Sterben an Schmerzen zu leiden. Die Sterbebegleitung könne die Angst vor dem Tod nehmen.

Während es auch Ehrenamtliche gibt, die sich teils über Monate oder Jahre hinweg mit todkranken Menschen für etwa einen Spaziergang treffen, kommt Bretschneider meist erst für die allerletzten Stunden. In der Regel in den Nächten am Wochenende, weil sie Vollzeit als Sozialarbeiterin arbeitet. Oft können sich die Betroffenen dann nicht mehr richtig äußern, und es geht in erster Linie ums Dasein. Darum, ein kleines Licht zu spenden. Auch die Angehörigen zu entlasten, ist Teil des Ehrenamts.

Eine Stütze für überlastete Angehörige

Die größte Herausforderung sei es, Ruhe zu bewahren und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Das ist der intimste Moment eines Menschen, ein einschneidendes Erlebnis für die ganze Familie, und dann kommen wir zur Tür rein“, sagt die junge Frau und erzählt von Momenten voller Unruhe, Hoffnung, die verloren geht, Plänen, die sich auflösen, und vielen organisatorischen Fragen – Augenblicke, in denen alles auf einmal innerhalb kürzester Zeit passiert.

Die Aufgabe der Sterbebegleiterin sei es dann, Halt und den Betroffenen die Möglichkeit geben, die Zeit, die noch bleibt, zu genießen. Außerdem gibt Sandra Bretschneider Hilfestellung bei unterschiedlichen Symptomen wie Atemnot, Mundtrockenheit oder Unruhe. Das Wichtigste sei aber, einfach da zu sein und zuzuhören. Manchmal gemeinsam zu lachen, manchmal gemeinsam zu schweigen, „damit niemand alleine sterben muss“.

Wenn Sandra Bretschneider einen Anruf für eine sogenannte Sitzwache bekommt, gibt es für sie verschiedene Stufen der Vorbereitung: Zuerst bekommt sie Infos zur Person, zur medizinischen Situation, biografische Details und eine Antwort auf die Frage, ob das Thema Glaube für die Betroffenen große Bedeutung hat. Das sei wichtig, um sich auf die Situation einstellen zu können. Dann packt sie ihre Tasche für die Nacht, oft kommt noch eine Decke mit. „Ich plane genügend Zeit ein, um nicht in Hektik anzukommen und Ruhe ausstrahlen zu können“, ergänzt die gebürtige Musbergerin. Kurz davor geht sie in sich, hört manchmal Musik und betet. Und wie fühlt sich die Nacht an einem fremden Sterbebett an? Verschiedenste Emotionen durchlebt die 33-Jährige während dieser Zeit: „Am allermeisten empfinde ich Dankbarkeit.“ Dankbarkeit dafür, sich die Zeit nehmen zu können, und dafür, dass unbekannte Menschen sie an ihren letzten Momenten teilhaben lassen. Am Morgen danach braucht sie viel Zeit für sich:„Es ist natürlich nicht so, dass ich das Haus verlasse und den Menschen dann vergesse.“ Die Sterbebegleitung gehe auch danach weiter. Wichtig sei es, die vergangenen Stunden zu reflektieren. Abstand zu ihrem Ehrenamt gewinnt sie, indem sie ihren Hobbys nachgeht, zum Beispiel Lesen.

Der Morgen nach einer Nacht am Sterbebett

Fast ihr halbes Leben nimmt Bretschneider nun schon am Abschiednehmen unbekannter Menschen teil. Am meisten verändert habe sich die Arbeit während der Coronapandemie – als man Abstand halten musste, in Augenblicken, in denen es eigentlich Nähe braucht.

Eine weitere Entwicklung: In letzter Zeit haben immer mehr jüngere Leute Interesse an der ehrenamtlichen Sterbebegleitung. Eine Entwicklung, die sich auch in den sozialen Medien beobachten lässt. Bretschneider sieht darin eine Folge der Pandemie: „Alle saßen zu Hause, und die Sinnhaftigkeit des Lebens rückte in den Fokus. Junge Menschen suchten Antworten.“ Die Sterbebegleitung sei ein möglicher Weg, diese Antworten zu finden.

In der Winterzeit erscheint die Serie „Lichtgeschichten von den Fildern“. In ihr wollen wir im wahrsten Sinne des Wortes beleuchten, welche Rolle das Licht in der dunklen Jahreszeit hat, mit Menschen sprechen, die mit Licht zu tun haben, das Licht bringen, oder Tipps geben, wie man sich selbst aus der Dunkelheit holen kann.

Unterstützung für die letzten Tage und Wochen

Hospizgruppe Leinfelden-Echterdingen
Seit 1992 besteht die Hospizgruppe LE, zu der auch Sandra Bretschneider gehört. Die Frauen und Männer unterstützen – unabhängig ihrer Konfession – Schwerkranke, Sterbende und ihre Angehörigen auf einer ehrenamtlichen Basis. Menschen, die an diesem Ehrenamt interessiert sind, können sich bei Katrin Schlegel unter 01 51 / 14 86 94 27 melden.

Letzte Hilfe
Die Johanniter bieten seit 1952 Letzte-Hilfe-Kurse an, um die Gesellschaft zu den Themen Tod, Sterben und Trauer ins Gespräch zu bringen und Menschen zu ermutigen, an der Begleitung schwer kranker und sterbender Menschen teilzunehmen. Weitere Infos dazu gibt es unter https://www.letztehilfe.info/