In Satteldorf nördlich von Crailsheim steht eines der letzten handbetriebenen Stellwerke im Land – für Ulrike Frese, die hier arbeitet, bietet es echtes Bahn-Feeling.
Der Bahnhof Satteldorf an der Strecke zwischen Crailsheim und Lauda hat schon bessere Zeiten gesehen. Das 156 Jahre alte, denkmalgeschützte Gebäude, das schon lange nicht mehr der Bahn, sondern einem örtlichen Steinbruchbesitzer gehört, steht leer. An der Fassade bröckelt der Sandstein, die Fenster sind verrammelt, an den Eingangstüren die einst zu einem gemütlichen Wartesaal samt Kohleofen führten, splittert der Lack. Am Bahnsteig steht stattdessen ein gläsernes Wartehäuschen. 22 Jahre lang hielt hier kein Zug mehr. Doch seit 2007 bedienen den Bedarfshalt wieder moderne Dieseltriebwagen im Stundentakt.
Wer am Ende des Bahnsteigs die Türe zum Stellwerk öffnet, geht durch eine Zeitmaschine. In einer Reihe stehen kräftige Hebel mit blauen oder roten Griffen – blau steht für Weichen, rot für Signale. Sie drehen massive Stahlscheiben, die lange Drahtzüge bewegen, welche das alles mechanisch steuern. Daneben steht ein Kasten mit grünen Hebeln. Namen und Nummern auf schwarzen Blechschildern ordnen das Ganze: „p1 a. Gl1, II nach Crailsheim“ steht da. Oder „n1 a. Gl. 1, IV, V nach Rot am See.“
Das Stellwerk als gute Stube
Für die Fahrdienstleiterin Ulrike Frese ist das hier keine nüchterne Steuerungszentrale, sondern eine gute Stube. Vor der Wand steht ein warmer Bullerofen. Überall sieht man Eisenbahn-Devotionalien, die Generationen von Bahnmitarbeitern hinterlassen haben, für die das Stellwerk offenbar mehr war als irgendein Arbeitsplatz. Ein Poster neben Freses Schreibtisch zeigt das „Rendezvous der letzten Dampfrösser im Bahnbetriebswerk Gelsenkirchen-Bismarck, Mai 1977“. Hinter dem Ofen erzählen vergilbte Zeitungsausschnitte vom Dampfbetrieb in Hohenlohe. Schräg daneben hängt die Titelseite eines alten Märklin-Katalogs mit einer Diesellok aus den fünfziger Jahren.
Die 62-Jährige erinnert sich noch an die Dampflokzeit. Das damalige Bahnbetriebswerk Crailsheim war eine der letzten Hochburgen des auslaufenden Dampfbetriebs in Deutschland. Durch Satteldorf fuhren bis vor genau 50 Jahren die letzten im Nachkriegsdeutschland neu gebauten Dampfloks. Auf einem Foto an der Wand ist eine solche Maschine der Baureihe 23 vor dem Bahnhof verewigt. „Ich bin ein Eisenbahnerkind“, sagt Frese, die Stellwerkerin: „Mein Vater war erst Heizer, dann Lokführer, mein Urgroßvater war Schaffner, der Großonkel Bahnhofsvorsteher.“ Die Modelleisenbahn durfte zu Hause nicht fehlen.
Als Mädchen in einem Männerberuf
Mit 16 Jahren war ihr klar, dass sie zur Bahn wollte. Nach der Schule bewarb sie sich in der Nähe von München auf eine Ausbildung zur Nachrichtengerätemechanikerin und Informationselektronikerin im Signalwesen. Eine Kollegin und sie seien dann bei ihrem anschließenden Job in Stuttgart die ersten Frauen gewesen, erzählt sie. Damals hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie eines Tages Hebel bedienen würde, die drei Jahrzehnte älter sind als sie selbst. Dabei ist das Satteldorfer Stellwerk, Baujahr 1934, für eine mechanische Anlage recht modern. Es gibt in Deutschland Stellwerke, die fast 40 Jahre älter sind.
Seit 2014 ist Satteldorf Freses Heimatbahnhof. Nach der Elternzeit ergriff sie die Chance, nahe ihres Wohnorts einen Job zu finden. „Ich wollte nicht mehr ins Gleis, bei Wind und Wetter raus.“ So wurde aus der Elektronikerin eine Handarbeiterin: „Was ich heute bediene, habe ich früher gewartet.“
Ein Rattern signalisiert den nächsten Zug
Ein Rattern unterbricht die Stille. Für Frese beginnt jetzt ein exakt choreografierter Ablauf, der sich auf handbetriebenen Stellwerken seit mehr als einem Jahrhundert kaum verändert hat. Am grünen Kasten mit dem so genannten Streckenblock hat sich eine Markierungsscheibe in einem kleinen runden Glasfenster lautstark gedreht. Erst war sie rot, nun ist sie weiß. Der Streckenblock sorgt dafür, dass immer nur ein Zug gleichzeitig einen Streckenabschnitt belegen kann. „Der Kollege vom Stellwerk in Crailsheim hat jetzt die Erlaubnis gegeben, damit der kommenden Zugfahrt nichts im Wege steht“, erklärt Frese.
Hinter jedem der vielen Hebel liegt ein Mechanismus oder eine mechanische Verriegelung, die verhindert, dass etwas versehentlich verstellt werden kann. Sicherheit ist hier zum Anfassen. Es knackt, rattert oder klingelt. „Hektik gibt es hier nicht,“ sagt Frese. Bei jeder Zugabfertigung liegen immer wieder Pausen vor dem nächsten Schritt.
Die Zugmeldung ist ein strenges Ritual
Dann meldet das Nachbarstellwerk im Norden den Zug an. Der Gesprächsablauf ist ebenfalls ein strenges Ritual: „Zugmeldung – wird Zug 2379 angenommen?“, so klingt es per Funk aus dem Lautsprecher. Frese antwortet: „Zug 2379 – ja.“ Dann wieder der Lautsprecher: „Zug 2379 Rot am See – voraussichtlich ab 41.“ Die Stellwerkerin bestätigt: „Ich wiederhole – Zug 2379 Rot am See, voraussichtlich ab 41.“ Das andere Stellwerk quittiert diese Antwort erneut.
Nun heißt es wieder zu warten, drei bis vier Minuten. Der Zug muss sich erst nähern. In Richtung Crailsheim sichert die Kommunikation noch ein alter, grauer Fernsprecher. Frese greift zum klobigen Hörer und meldet Zug 2379 nach Crailsheim. Trotz eines Gewitters muss sie nun hinaus, um mit einer Handkurbel die Schranke am Bahnhof hinunterzulassen. Die einzige Veränderung seit der Zeit ihrer Kindheit: Ein Holzverschlag bietet jetzt Wetterschutz beim Kurbeln. Das bimmelnde Läutewerk sorgt für die nostalgische Bahnmelodie.
Frese liebt das Gefühl für die Mechanik
Erst wenn die Schranke heruntergelassen ist, lässt sich das Ausfahrsignal auf Fahrt stellen. Frese geht zurück, packt mit energischem Griff einen der roten Hebel und drückt ihn nach unten. Am Signal, das mit einem langen Drahtzug verbunden ist, springt der rot-weiße Flügel nach oben. „Das braucht schon Kraft“, sagt sie. „Weiche eins ist die schwerste. Die Signale gehen leichter.“ Die Drahtzüge reagierten zudem sensibel auf Wetter und Temperatur.
Aber sie liebt das Gefühl für die Mechanik. Hier sitzt sie nicht mit einer Maus vor dem Bildschirm. Es ist alles buchstäblich zu begreifen. Schon als Mädchen habe sie gerne mit den Händen gearbeitet, sagt sie: „Ich mag die Geräusche.“ Ob etwas nicht stimmt, signalisiert keine Diagnose-Software. Es seien alle Sinne gefragt, sagt Frese: „Jedes Stellwerk fühlt und hört sich anders an.“
Mit Schwung an den roten Hebel
Wenn der Zug einfährt, muss sie noch einmal hinaus auf den Bahnsteig. Sie beobachtet den Zug, schaut auf dessen Rücklichter, um sich zu vergewissern, dass er komplett ist. Dann geht sie zurück ins Stellwerk. Mit geübter Wucht hievt sie den roten Hebel wieder in die Ausgangsstellung nach oben. Der lange Drahtzug bis zum Signal senkt dort den Flügel. Dann muss sie die Schranke hochkurbeln und dem Kollegen in Crailsheim per Tastendruck am grünen Kasten mitteilen, dass der Zug losgefahren ist. Damit ist der Streckenabschnitt für folgende Züge gesperrt. Nun heißt es wieder zu warten auf den nächsten Zug. In dieser Zeit gebe sie gerne Reisenden Auskunft oder helfe am Fahrkartenautomaten, sagt Frese.
Lange Pausen, dann viel Konzentration
Der Wechsel zwischen langen Pausen und Phasen hoher Konzentration sei anspruchsvoll, sagt sie. Man müsse gut allein sein können. „Ich muss bei der Sache bleiben und darf mich nicht ablenken lassen.“ Aber sie weiß die klaren Prozesse und die Struktur in ihrer verantwortungsvollen Arbeit zu schätzen. „Ich habe eine große Hochachtung vor denen, die sich das einmal ausgedacht haben,“ sagt Ulrike Frese.
Wer auf dem von Bahn-Enthusiasten erstellten Internetportal www.stellwerke.info stöbert, der landet bei rund 550 mechanischen Stellwerken, die bei der Deutschen Bahn aktuell noch in Betrieb sind – etwa zehn Prozent des Bestands. Ein halbes Dutzend sind sogar Relikte aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Es wird klar, welchen Spagat die Bahn bewältigt.
Hundert Kilometer von Satteldorf entfernt wird rund um Stuttgart zurzeit einer der weltweit modernsten, digitalen Bahnknoten ausgebaut, der komplett ohne Signale an der Strecke auskommt. Die Bahn ersetzt seit Jahren in hohem Tempo ihre personalintensiven mechanischen Stellwerke durch Elektronik. Ein neues Stellwerk macht mehrere ältere überflüssig, denn mechanische Anlagen können Weichen nur bis zu 800 Metern Entfernung stellen, Signale bis zu 1800 Metern. Doch die gewachsene Infrastruktur lässt sich nicht von heute auf morgen umstellen. „Einmal hat mich ein Fahrgast gefragt, ob er mal ins Museum reindürfe,“ sagt Frese. Sie erwiderte, dass er ja gerade mithilfe des Museums hergefahren sei.
Die Anlage ist sicher und robust. Sie funktioniert problemlos im Zusammenspiel mit moderneren Nachbarstellwerken. Doch die Uhr für Satteldorf tickt. Auf der Westfrankenbahn werden die mechanischen Stellwerke seit 2019 abgelöst. Rot am See wird seit 2024 elektronisch ferngesteuert. Satteldorf steht 2026 an. Die letzte alte Anlage in Bad Mergentheim soll 2028 stillgelegt werden. Vielleicht werde sie sich auf das zentrale Stellwerk an der Strecke bewerben, sagt Ulrike Frese. Oder in Crailsheim. Fachkräfte wie sie sind gefragt: „Wenn man die Mechanik einmal verstanden hat, begreift man jede moderne Stellwerkstechnik“, sagt sie. „Ich würde jedem raten, die Mechanik zu erlernen, bevor er in eine andere Technik geht.“
Die Uhr für das alte Stellwerk tickt
Was wird sie vermissen, wenn ihr alter Arbeitsplatz verschwindet? „Ich habe mein mechanisches Stellwerk schon lieb gewonnen“, sagt Frese. Doch jede moderne Stellwerkstechnik sei für sie in ihren verbleibenden Berufsjahren absolut in Ordnung. Und welches Erinnerungsstück würde sie gerne mitnehmen? „Einen Weichenhebel. Für mich der Inbegriff von Bahnhof!“