Als 13-Jähriger kam Ismail Mutlu von Anatolien nach Geislingen. Dort engagiert er sich seit Jahren als Gemeinderat und neuerdings sogar als Stellvertreter des Oberbürgermeisters.
Geislingen - Manche Dinge ärgern Ismail Mutlu einfach. Der 52-Jährige ist seit Jahrzehnten in Geislingen engagiert und versteht unter anderem nicht, dass Zuwanderer teilweise in zweiter oder dritter Generation es nicht schaffen, sich in ihrer neuen Heimat auch einzusetzen. Er selbst ist in Geislingen ehrenamtlich tätig, bereits zum dritten Mal ist Mutlu bei den Kommunalwahlen für die Grünen in den Stadtrat gewählt worden. Jetzt wurde er zum ersten stellvertretenden OB mit türkischer Abstammung weit und breit gekürt. „Darauf bin ich schon stolz“, sagt er. Dabei war der Start in Deutschland für ihn alles andere als einfach.
Mit 13 Jahren holte ihn der Vater aus Anatolien nach Geislingen
„Mein Vater war 1964 einer der ersten Gastarbeiter aus Anatolien im Saarland und 1979 der erste Türke, der in Geislingen ein Haus gekauft hat. Bis ich 13 Jahre alt war, habe ich ihn nur einmal im Jahr oder alle zwei Jahre in den Ferien gesehen. Dann hat er uns geholt“, erinnert er sich. Ohne dass er ein Wort Deutsch sprach, habe man ihn dann durch die Hauptschule geschleust. „Keiner hat mir erklärt, dass es wichtig ist, die Sprache zu können oder mir gar was beigebracht.“ Ohne Abschluss schlug er sich mit Gelegenheitsjobs herum, bis er 1988 als Hilfsarbeiter bei der WMF landete.
Vom Hilfsarbeiter zum Industriemechaniker
„Ich war in einer türkischen Clique, ich musste kein Wort Deutsch sprechen“, berichtet Mutlu. Erst nachdem ihn ein guter Kumpel einmal mit zu einer Veranstaltung von Amnesty International nahm, wendete sich das Blatt. „Das war spannend, das waren Deutsche, ich merkte, dass die Sprache wichtig ist“, erzählt er. Also machte er mit 24 Jahren den Hauptschulabschluss nach und begann 1993 eine Ausbildung zum Industriemechaniker.
Ortsvereinsvorsitzender der Grünen mit deutschem Pass
Parallel dazu entwickelte sich Mutlus ehrenamtliches Engagement. Er war beim Stadtjugendring und im Kulturverein der Rätsche aktiv und war außerdem Gründungsmitglied der Grünen Alternativen Liste in Geislingen. Über die Geislingerin und heutige Bundestagsabgeordnete Brigitte Lösch kam er zu den Grünen, beeindruckt nicht zuletzt durch eine Veranstaltung mit dem türkisch-stämmigen Grünen-Politiker Cem Özdemir. „So kam es, dass ein Türke in Geislingen Ortsvereinsvorsitzender der Grünen wurde“, sagt Mutlu schmunzelnd. Ob im Kreisverband, im Integrationsbeirat, als Betriebsratsvorsitzender bei der WMF, als Gastkommentator in der Lokalzeitung oder in anderen Ehrenämtern: Mutlu verschaffte sich Gehör.
2004 nahm er die deutsche Staatsbürgerschaft an und kandidierte für den Geislinger Gemeinderat. Was beim ersten Anlauf nicht gelang, klappte dann fünf Jahre später: Mutlu errang eines der beiden Mandate für die Grünen und ist seither Stadtrat. „Ich wurde auch schon gefragt, ob ich nicht für den Landtag kandidieren will, aber ganz ehrlich: ich bleibe lieber beim Ehrenamt“, sagt Mutlu.
Früher WMF-Betriebsrat – heute Leiter einer Fahrrad-Recycling-Werkstatt
Bei der WMF ist er auch ausgestiegen. Seit Januar hat Mutlu eine neue Berufung gefunden. Als Leiter der Fahrrad-Recycling-Werkstatt bei der Staufen-Arbeits- und Beschäftigungsgesellschaft SAB könne er soziales Engagement und Beruf ideal miteinander verknüpfen, sagt er.
Ganz lässt ihn die WMF aber nicht los: Angesichts des dort angekündigten Stellenabbaus soll nach der Sommerpause im Gemeinderat auf Mutlus Antrag hin eine Stellungnahme der Stadt beraten werden. „Das ist ein trauriges Kapitel“, erläutert er. In den letzten zehn Jahren sei es bei der WMF letztlich immer wieder um Umstrukturierungen und Stellenabbau gegangen, nachdem eine Produktion nach der anderen ins Ausland verschoben werde.
Die Sprache und der Respekt vor den Gesetzen als Schlüssel zur Integration
Rückblickend sagt Mutlu: „Die ersten zehn Jahre in Deutschland waren wahnsinnig schwer. Aber dann habe ich gemerkt worauf es ankommt und so gebe ich es auch weiter: Das erste und wichtigste ist, dass man die Sprache lernt. Dann muss man das Gesetz respektieren und schließlich mindestens einen mittleren Bildungsabschluss mitnehmen. Dann ist Integration geglückt.“