Der 71-jährige Dr. Wolfgang Scheel verfolgt ein naturheilkundliches Konzept – er eckt damit jedoch bei den Foto: /Oliver von Schaewen

Die Kassenärztliche Vereinigung will dem Mediziner Dr. Wolfgang Scheel die Zulassung entziehen – die Patienten laufen dagegen Sturm: 4700 Unterschriften haben sie bereits gesammelt.

Steinheim - Der Steinheimer Kinderarzt Dr.  Wolfgang Scheel steckt in der Bredouille. Dem 71-Jährigen droht nach 38 Jahren als Kassenarzt das Aus. Die Kassenärztliche Vereinigung von Baden-Württemberg (KVBW) will dem Mediziner die Zulassung entziehen. Ein Verfahren läuft – Scheel sieht sein Lebenswerk in Gefahr und wehrt sich mit aller Macht dagegen.

Der naturheilkundlich behandelnde Scheel ist offenbar sehr gefragt. Aus weiten Teilen Baden-Württembergs und darüber hinaus sind in seiner Praxiskartei 30 000  Eltern registriert, die ihre Kinder mit alternativen Heilmethoden behandeln lassen. „Derzeit sind es etwa 2000“, gibt der Arzt an. Viele Jahre habe er seine Alternativmedizin ohne Einwände der Kassenärztlichen Vereinigung ausüben können. Wie er sich das Vorgehen gerade jetzt erklärt? Anlass dürfte dessen kritische Haltung zur Impfpflicht sein – das passe manchem Kollegen nicht. Zu Unrecht, so Scheel: „Kein Arzt kann garantieren, dass es nicht zu Impfschäden kommt“, betont der Arzt, der die vom Bundestag mit Wirkung zum 1.  März dieses Jahres beschlossene Nachweispflicht zur Masern-Impfung hinterfragt. Auf seiner Homepage zählt der kritische Arzt unter anderem die in Impfstoffen enthaltenen Chemikalien auf.

Der Internetauftritt des unbequemen Scheel war wohl schon früher Kollegen aufgestoßen. Die Bezirksärztekammer (BÄK) Nordwürttemberg leitete im September 2019 ein berufsrechtliches Verfahren gegen ihn ein. Der Vorwurf: Er behandele keine Kinder, deren Eltern auf der Masern-Impfung bestehen. Zwei Monate später verschärfte sich der Konflikt. Das Gesundheitsamt Stuttgart hielt Scheel vor, er hätte bei einem Säugling im Erstbesuch dessen Entwicklungsverzögerung und Mangelernährung erkennen müssen. Der Arzt habe stattdessen das Kind mehrere Wochen lang homöopathisch behandelt, bevor er die Eltern nach dem zweiten Besuch in seiner Praxis in eine Klinik überwies. Die Eltern habe er nicht darüber informiert, dass sich das Kind in einem akut lebensgefährlichen Zustand befinde.

Wegen dieses Falles reichte das Stuttgarter Gesundheitsamt bei der KVBW eine Beschwerde ein. Es kam Ende November zu einem Schriftwechsel mit dem Kindermediziner – dann stellte die Kassenärztliche Vereinigung am 10.  Januar bei der Zulassungsstelle für Ärzte den Antrag, Scheel die Kassenzulassung zu entziehen. Der Arzt selbst sieht sich als Opfer eines Kesseltreibens und vermutet einen Zusammenhang mit einem kritischen Brief, den er wegen der Impfpflicht an einen CDU-Gesundheitspolitiker und Bundestagsabgeordneten geschrieben habe. Er sei jetzt wohl „zum Abschuss durch die KVBW“ freigegeben.

Die Vorwürfe, mit denen Dr. Wolfgang Scheel konfrontiert wird: Er stelle die Erreger-Hypothese zu Masern infrage, lehne Impfungen ab, dränge Patienten zu einer veganen Ernährung und empfehle Lichtnahrung. Dies vertrage sich nicht mit den Prinzipien wissenschaftlicher Medizin. „Herr Scheel dient nicht der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes“, heißt es in dem Antrag der KVBW. Und: „Ein Vertragsarzt, der die Existenz von Masernviren leugnet, genügt diesen Anforderungen nicht.“

Der Steinheimer Arzt steht indessen zu seinen Positionen und zu seinen alternativen Behandlungsformen. Die Impfpflicht hält Dr. Wolfgang Scheel für eine Bevormundung durch den Staat, der von Lobbyisten der Pharmaindustrie beeinflusst sei und im Gesundheitssystem nur an Symptomen herumdoktere, dafür aber nicht die eigentlichen Gründe für Erkrankungen erkenne. „Die Masernhysterie wird oft mit Schreckensmeldungen von den theoretisch möglichen Komplikationen, wie etwa Lungenentzündung, Mittelohrentzündung oder Gehirn- oder Hirnhautentzündung betrieben“, sagt Scheel. Masern verliefen im Normalfall völlig problemlos und böten erkrankten Kindern bei richtiger Behandlung sogar eine Entwicklungschance. Scheel empfiehlt den Eltern für ihre Kinder Bettruhe, Darmentlastung mit Einläufen und leichter Kost sowie Lymphdrainage, Thymusaktivierung und eine gute mental-psychische Führung sowie eine homöopathische Therapie.

Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg hält Scheel hingegen vor, er nehme wesentliche Erkenntnisse der Schulmedizin nicht ernst. „Die Bekämpfung des Masernvirus durch präventives Impfen ist eine wissenschaftlich gesicherte und fundierte nachhaltige Methode, die Allgemeinheit vor der Erkrankung zu schützen“, heißt es im Antrag der Kassenärztlichen Vereinigung. Laut Schätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO hätten Masernviren im Jahr 2000 fast die Hälfte der 1,7 Millionen durch Impfung vermeidbare Todesfälle bei Kindern verursacht. Scheel hingegen zeige auf seiner Homepage mit Sätzen wie „Wir Ärzte sind der lebende Beweis, das nichts ansteckend ist“ oder „Auch Masern bekommen wir nur, wenn wir die Disposition oder die innere komplexe Bereitschaft dazu haben“, dass er dem Menschen selbst das Verschulden an seinen Krankheiten zuschreibt.

Ganz im Kontrast zu den Einschätzungen der KVBW laufen inzwischen Scheels Patienten und andere Sympathisanten in den sozialen Netzwerken Sturm. Sie akzeptieren nicht, dass der offenbar beliebte und erfolgreich behandelnde Kinderarzt aus dem Verkehr gezogen werden soll. Die Unterstützer haben per Online-Petition rund 4700 Unterschriften gesammelt. Die Anhänger wollen vor Ort demonstrieren, wenn Scheel sich am 13.  Februar vor dem Zulassungsausschuss der KVBW in Stuttgart-Möhringen rechtfertigen muss.

Eine Patientin, die namentlich nicht genannt werden will, aber diese Zeitung über den Fall Scheel informierte, berichtet, sie sei mit ihren beiden Kindern stets liebevoll und medizinisch äußerst kompetent von Dr. Scheel beraten worden. Er habe in 38 Jahren nie einen Fall gehabt, der tödlich ausgegangen sei, was der Arzt auf Nachfrage bestätigte. „Ich bin entsetzt, dass einem solch klasse Arzt die Zulassung entzogen werden soll“, sagt die Frau. Im Internet wird der Mediziner auf einer Plattform mit 4,9  von fünf möglichen Sternen bei bisher 53-Bewertungen ausgesprochen positiv rezensiert.

Die Kassenärztliche Vereinigung lehnt eine Stellungnahme zu den Vorgängen ab. KVBW-Sprecher Kai Sonntag verweist auf den zuständigen Zulassungsausschuss. „Das ist ein rechtlich selbstständiges Gremium, das sich zu gleichen Teilen aus Vertretern der Ärzteschaft und der Krankenkassen zusammensetzt.“ Ebenso seien Patientenvertreter zu den Sitzungen beigeordnet. „Nach den gesetzlichen Bestimmungen sind die Sitzungen der Zulassungsausschüsse immer nicht-öffentlich.“

Generell halte die KVBW laut Kai Sonntag Impfungen „für eine großartige Entwicklung der Medizin und es für nicht vertretbar, wenn sich ein Arzt Impfungen verweigert“. Die Impfpflicht sei gesetzlich vorgegeben. Dass Dr. Scheel für Menschen mit Unverträglichkeiten eine Anlaufstation darstelle, stellt die KVBW nicht in Abrede: „Es gibt sicherlich Situationen, in denen Impfungen in einzelnen Fällen separat betrachtet werden müssen. Das ist dann auch Aufgabe eines Arztes.“ Auch stehe es einem Arzt durchaus zu, auf seiner Homepage zu Umweltthemen wie dem Ausbau des 5G-Mobilfunknetzes seine Meinung zu äußern.

Die Bundesregierung führte die Impfpflicht ein, nachdem Forscher auf ein erhöhtes Risiko für Kinder hingewiesen hatten, an den Spätfolgen der Masern zu erkranken. Das Durchschnittsrisiko für Kinder bis fünf Jahre, eine tödliche Gehirnentzündung zu bekommen, liege bei eins zu 3300 statt, wie bisher angenommen, eins zu 100 000, hieß es in der Würzburger Anti-Masern-Studie von 2013.

Den Kommentar zum Thema von unserem Redakteur Oliver von Schaewen finden Sie hier