Der Murrer Marcus Ziegler hat Stammzellen gespendet und nach fünf Jahren den Empfänger kennenlernen dürfen. Das Treffen mit dem fast gleichaltrigen Österreicher ist emotional.
Murr - Marcus Ziegler hat immer noch Gänsehaut. Auch ein paar Tage später merkt man dem Murrer die Emotionen an, die das Treffen mit seinem genetischen Zwilling ausgelöst hat. Fünf Jahre haben er und der Österreicher Helmut Bruckner auf diesen Moment gewartet.
Im April 2016 erhielt Marcus Ziegler die Nachricht der Deutschen Knochenmarkspenderdatei DKMS, dass er sich bereit halten solle. „Wir haben akut jemanden, der Ihre Hilfe braucht“, hieß es. Es folgten die Voruntersuchungen und Vorbesprechung im Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart, am 10. Mai 2016 war dann die Stammzellenentnahme. Diese dauerte viereinhalb Stunden und verlief – auch im Nachgang für Marcus Ziegler – ohne Probleme. Parallel wurde Helmut Bruckners Immunsystem im Krankenhaus in Graz heruntergefahren, einen Tag später erhielt er die Stammzellenspende. Kurz zuvor war bei ihm akute Leukämie diagnostiziert worden. „Wir reden von Wochen“, hatte sein Arzt über seine Aussichten gesagt.
Die Tage bis zur Spende heruntergezählt
„Ohne die Spende von Markus wäre ich jetzt nicht hier“, sagt Helmut Bruckner. Und: „Es ist nicht selbstverständlich, dass ich da wieder raus gekommen bin.“ Die Zeit war mehr als hart, auch für seine Familie. „Das war brutal“, sagt er heute. Zweieinhalb Jahre hat er gebraucht, um körperlich wieder auf der Höhe zu sein.
Als er im Krankenhaus war, hat er die Tage bis zur Spende heruntergezählt. Danach hat er der Österreicher eine neue Zeitrechnung begonnen. Und auch jetzt hat der 49-Jährige wieder die Tage gezählt – bis er vorvergangenes Wochenende endlich seinem genetischen Zwilling, seinem Lebensretter, gegenüber stehen konnte.
Beide wollten das Treffen
Dass das so lange gedauert hat, liegt an den österreichischen Vorgaben, wonach sich Stammzellenspender und -empfänger – so sie es denn überhaupt wollen – erst nach fünf Jahren kennenlernen dürfen. Im Falle von Marcus Ziegler und Helmut Bruckner wollten es beide von Anfang an.
Schon die ganzen Jahre über hatten sie sich Briefe geschrieben, die jeweils von der DKMS beziehungsweise deren österreichischem Pendant anonymisiert weitergegeben wurden. Als die Sperre aufgehoben war, telefonierten die beiden und machten ein Treffen auf halbem Wege in einem Hotel am Wilden Kaiser in Tirol aus. Gemeinsam mit den Familien fuhren sie los.
Der Moment ist überwältigend
„Es war wie ein Blind Date“, sagt Helmut Bruckner. „Was sagt man da? Was tut man?“, habe er sich im Vorfeld gefragt. Marcus Ziegler und seine Familie kommen zuerst im Hotel an und warten am Pool. Keiner sonst war da, berichtet der 47-Jährige. Der Moment, als Helmut Bruckner auf ihn zukommt, ist überwältigend. Beeindruckend die Ähnlichkeiten, die sich im Laufe des Treffens herauskristallisierten. Und die teils schon zu Beginn ganz deutlich waren: „Wir waren fast gleich angezogen, kurze Hose, T-Shirt, Turnschuhe. Beide hatten wir eine kleine Tasche dabei.“ Selbst die Ehefrauen zwei Männer sehen sich ziemlich ähnlich, die Kinder – zweimal zwei Jungs – sind bei Marcus Ziegler 16 und zwölf Jahre alt, bei Helmut Bruckner 14 und elf. Alle verstehen sich auf Anhieb.
Letztlich begrüßen sich die Männer recht gefasst mit einer Umarmung. „Mein Lebensretter. Ohne dich wäre ich nicht mehr da“, sagt Helmut Bruckner zu Marcus Ziegler. Die Familien gehen gemeinsam wandern und später essen, abends sitzen die Erwachsenen an der Bar zusammen. Die genetischen Zwillinge trinken beide Gin Tonic und am nächsten Tag beim Frühstück Multivitaminsaft. „Wir haben uns viel erzählt und uns ausgetauscht“, berichtet Marcus Ziegler. Man ist sich sympathisch und immer mehr Gemeinsamkeiten kommen ans Tageslicht. Zieglers haben vor zehn Jahren in Murr gebaut, Bruckners genau zur selben Zeit in der Steiermark ein Haus gekauft. Als Marcus Zieglers Sohn auf der Wanderung „Papa“ ruft, drehen sich beide um. Beim Abend an der Bar greifen die genetischen Zwillinge zeitgleich zu ihren Gläsern. „Es war unvorstellbar“, sagt Marcus Ziegler. „Man merkt, dass es passt, dass da eine Verbindung, eine Beziehung da ist.“
Weiter in Kontakt bleiben
Fast die gleichen Sätze sagt Helmut Bruckner am Telefon im Gespräch mit unserer Zeitung und schiebt hinterher „mir fehlen die Worte“. Er sei immer noch in Gedanken bei dem Treffen. Ein Blind Date, „das super funktioniert hat“. Die genetischen Zwillinge und ihre Familien wollen in Kontakt bleiben, die Murrer sind schon zum 50. Geburtstag von Helmut Bruckner im September eingeladen. Schon in den Sommerferien soll es einen Besuch der Österreicher bei Zieglers geben. Überhaupt soll es nicht das letzte Treffen gewesen sein. Vielleicht gehen die genetischen Zwillinge und ihre Lieben dann gemeinsam Radfahren. Oder im Winter mal Skifahren. Beide – wie soll es anders sein – lieben Sport. Und Marcus Ziegler sagt: „Ich habe schon drei Geschwister, jetzt habe ich vier.“
Stammzellen spenden
Blutkrebs
Alle zwölf Minuten erhält in Deutschland ein Mensch die Diagnose. Weltweit ist das alle 27 Sekunden der Fall, teilt die DKMS mit. Und: Blutkrebs ist nach wie vor die häufigste Ursache für krebsbedingte Todesfälle bei Kindern.
Stammzellenspende
Viele Patienten können ohne eine Stammzellspende nicht überleben. „Mit der Suche nach geeigneten Spendern beginnt immer ein Wettlauf gegen die Zeit“ heißt es auf der Homepage der DKMS. „Je schneller ein ,Match’ gefunden wird, desto größer sind die Überlebenschancen der Patienten.“ Meist werden dem Spender Stammzellen entnommen, in deutlich weniger Fällen – 20 Prozent – Knochenmark.
Spender werden
Auf der Homepage der DKMS kann man sich registrieren. Man bekommt man ein Set mit einem Stäbchen zugeschickt und kann selbst einen Wangenabstrich machen. Die Probe wird analysiert und in die Datei aufgenommen.