Das Kaufhaus Tietz, nachmals Union, der Architekten Bihl und Woltz Foto:  

Die architektonische Qualität hat in der Landeshauptstadt immer mehr abgenommen, behauptet der Architekt Roland Ostertag in seinem Gastbeitrag. Bester Beweis für seine These ist der Umbau des Karstadt-Kaufhauses in der Königstraße zu einem gepanzerten Einkaufszentrum.

Stuttgart - Stuttgart ist die Stadt der Architekten. Sie hat die höchste Architektendichte unter Deutschlands Großstädten. Doch die städtebauliche und architektonische Qualität der Stadt, der Blick von den Hanglagen und bei Spaziergängen durch die Straßen lassen gleichwohl zu wünschen übrig. Topografisch schön gelegen, befindet sich die Stadt baulich in einem fragwürdigen Zustand. Ursache sind nicht nur die Großprojekte, es ist die Entwicklung der Stadt ohne Idee, Kenntnis und Beachtung ihrer Geschichte. Das Bild der Stadt erfährt seit Jahrzehnten radikale, gar zerstörerische Eingriffe.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Probleme im Einzelnen lässt sich doch eine Konstante feststellen: die kontinuierliche Abnahme der architektonischen Qualität bei gleichzeitiger Zunahme der Defizite. Es fehlt ein Gesamtkonzept, nicht nur in der Stadtplanung. Daraus resultiert die mangelnde Achtung des Denkmalschutzes. Noch immer grassiert die Abrisswut, und bis auf wenige gute Solitäre, etwa den Hospitalhof der Architekten Lederer, Ragnarsdottir, Oei, entstehen vornehmlich Bauten von hoher Belanglosigkeit, denen jede Ortsbezogenheit fehlt. Man gewinnt beim Gang durch die Stadt den Eindruck, dass ihr feindlich Gesinnte sie geplant und gebaut haben.

Die Geschäfte der Einkaufsstraße gehören zu hundert Prozent zu Ladenketten

Sichtbar und erlebbar ist das besonders in der Königstraße. Ihre „Qualität“ wird nicht an ihren räumlichen, atmosphärischen und historischen Eigenschaften gemessen, nicht an der Vielfalt der Nutzungen oder des Warenangebots, sondern an den Besucherströmen, der Anzahl der Passanten pro Stunde. Die Geschäfte gehören nahezu zu hundert Prozent zu Ladenketten. Der Kommerz muss als Hauptmotor sogenannten städtischen Lebens im öffentlichen Raum brummen

Die Königstraße, einst Pracht- und Flaniermeile im Zentrum, ist zur schnurgeraden Einkaufsmeile mutiert. Vor Ihrer Zerstörung und dem Wiederaufbau nach dem Krieg säumten bürgerliche Gebäude von hoher Alltagsqualität die Straße. Sie waren identitätsprägend, voller Charakter und Atmosphäre, die Architektur eine Mischung aus Solidität und Angemessenheit. Dem Maler Reinhold Nägele etwa, Fotografen und Zeichnern diente die Königstraße häufig als Motiv. Doch im Zuge des Wiederaufbaus büßte sie diesen Charakter ein. Bemerkenswerte, großstädtische Gebäude sind allmählich verschwunden, die Straße ist dabei immer gesichtsloser und verwechselbarer geworden. Überdurchschnittliche architektonische Qualität weisen nur noch wenige Bauten auf: Neben den historischen Gebäuden rund um den Schlossplatz mit dem Kunstmuseum, Königsbau, Prinzenbau, der Alten Kanzlei und den Schlössern sind es die Peek-&-Cloppenburg-Filiale, St. Eberhard, das Haus der Katholischen Kirche, die Buchhandlung Wittwer, Speiserbau, Mittnachtbau und das frühere Karstadt-Kaufhaus.

Früher hat das Karstadt-Gebäude mit seiner klaren Sprache die Königstraße bereichert

Dieses blickt auf eine lange Geschichte mit verschiedenen Besitzern und Pächtern zurück. Unter wechselnden Namen - Union, Tietz, Hertie, Karstadt - musste es viele Zerstörungen, Um- und Anbauten über sich ergehen lassen. Das noch dem 19. Jahrhundert sich verpflichtet fühlende Kaufhaus Union wurde in den späten zwanziger Jahren als Kaufhaus Tietz vom Architekten Richard Döcker ersetzt und nach der Kriegszerstörung von 1950 bis 1953 von diesem als Kaufhaus Tietz nach seinen Plänen von 1929 wieder aufgebaut. Es war ein diesem Standort gemäßes Gebäude von großstädtischer Haltung und Qualität. Döckers Entwurfsprinzipien brachte es geradezu idealtypisch zum Ausdruck: Die klare, kubische Baukörpersprache der zwanziger Jahre, das Schweben des Hauptbaukörpers über dem zurückgesetzten Erdgeschoss, die Betonung der Einmündung zur autofreien Schulstraße, die horizontale und vertikale Gliederung des Erscheinungsbildes. Mit dieser überzeugenden Haltung und Sprache wurde die Königstraße bereichert. Leider wurde der Bau durch Baumaßnahmen nachfolgender Besitzer und Architekten laufend negativ verändert. Wegen der vielen Eingriffe wurde das Gebäude nicht unter Denkmalschutz gestellt. Geht man heute durch die Stadt, kommt man an vielen durch Gerüste, Planen versteckten Gebäuden vorbei, die die bange Frage aufkommen lassen: Was wird da Schreckliches zum Vorschein kommen, wenn diese Hüllen fallen?

Doch bei Karstadt muss man gar nicht warten, bis die Hülle fällt. Denn erstaunt, ja entsetzt nimmt man die Präsentation auf dem Bauschild zur Kenntnis, wie das Gebäude nach dem Umbau aussehen soll. Man fühlt sich an Bauten aus der Zeit von 1933 bis 1945 erinnert. Die Größe des Gebäudes war bereits Ende der Zwanziger beeindruckend. Die Gliederung und guten Proportionen machten die Monumentalmaße erträglich. Beim Wiederaufbau durch Döcker 1953 wurden die Grundqualitäten gerade noch bewahrt, jedoch bei den Umbauten der folgenden Jahrzehnte nicht mehr. Was auf dem Bauschild präsentiert wird, verlässt diese Haltung. Ein Gebäude anderer Grundhaltung wird entstehen.

Architektur als Machtdemonstration

Die Vertikalität wird überbetont, das bisher eingeschossige Erdgeschoss wird mit dem ersten Obergeschoss zu einem unproportionierten zweigeschossigen Gebäudesockel zusammengefasst, darüber ein sechsgeschossiger steinerner Überbau. Es entsteht ein verpanzertes Einkaufszentrum, ein Monumentalbau, der Passanten und Kunden zu Zwergen degradiert. Ein fremder Bau an der Königstraße, Architektur mit einer Formensprache, die mit Vertikalität und großer Höhe ihre Macht zum Ausdruck bringt. Und dies gerade gegenüber dem höchst qualitätvollen, die Königstraße bereichernden Mittnachtbau der Architekten Eisenlohr und Pfennig von 1928.

Die Hoffnung, dass wir uns längst zivileren Architekturen und Mitteln zugewandt haben, wird enttäuscht. Denn beim Gang durch die Stadt entdeckt man weitere Gebäude ähnlicher Haltung. Vor allem das Gerber, die Shopping-Mall zwischen Tübinger- und Paulinenstraße spricht mit seiner achsial gegliederten, monumentalen Fassade eine ähnliche Sprache. Die Chance, mit dem Karstadt-Umbau und dem Gerber der Königstraße und den innerstädtischen Stadtquartieren wieder Gewicht und Gesicht zu geben, ist vertan worden. Stattdessen machen sich auch an der Architektur der Stadt die gleichen Tendenzen wie in der Politik und Gesellschaft bemerkbar. Gebautes war schon immer ein Seismograph für Stimmungen, für geistige Entwicklungen und Haltungen, die ernst genommen werden müssen.