Annik Aichers Matrjoschka symbolisiert die drei Russsinnen am Königshof. Foto: Sybille Neth

Annik Aicher spürt den Geschichten nach, die Häuser erzählen. Bei ihrem Stadtteilspaziergang berichtet sie von früheren Bewohner des Stuttgarter Westens und weiß auch Kurioses zu berichten.

S-West - Häuser und Wohnungen erzählen Geschichten und denen ist die Journalistin und Kunsthistorikerin Annik Aicher auf der Spur. In Archiven und Magazinen stöbert sie nach den Namen ehemaliger Bewohner und deren Biografien. Ihre Lust an der Geschichte und den Geschichten aus dem Westen manifestiert sich schon in ihrem Garagenmuseum: „Maries gute Stube“ am Traubenplätzle. Und dort startet Annik Aichers Reise durch die vergangenen Zeiten im Bezirk, Getränke für die Mitspazierer eingeschlossen. Aber nicht nur das: Ein altmodisches Reise- Köfferchen ist mit von der Partie, gefüllt mit Dokumenten, Stadtansichten und Bildern. Ein paar Teilnehmer dürfen einen symbolischen Zeitzeugen tragen. Der kommt dann an einem bestimmten Ort zum Einsatz.

So wie zwei Reste Wollstoff an der Schwabstraße 126. Hier beginnen sie über ihre Herkunft zu erzählen. Die Anteilseigner an der jüdischen Textilfabrik Mendel und Levy – Bernhard und Hedwig Schreiber – lebten hier vor dem Zweiten Weltkrieg. Hedwig Schreiber war die Schwester von Emil Levy. Die Fabrik stand in der Lindenspürstraße und gehörte ehemals der Wirkwarenfabrik Bleyle. Inhaber Wilhelm Bleyle baute gegenüber eine neue Produktionsstätte, die immer noch vorhanden ist. Von 1935 an liefen die Geschäfte der Textilfabrik immer schlechter, denn Juden wurden boykottiert. 1938 verkaufte Levy den Besitz zu einem Spottpreis, das Ehepaar Schreiber wurde zwangsdeportiert und kam 1942 ins Lager Theresienstadt. Zum Gedenken sind heute zwei Stolpersteine vor der Haustür Nummer 126. Levy konnte fliehen: „Umgerechnet 10 000 Euro musste er an das NS-Regime für die Ausreise bezahlen“, hat Annik Aicher recherchiert.

Aber Erfreuliches brachte sie ebenfalls in Erfahrung: An der Ecke zum Traubenplätzle bewies ein Lebensmittelhändler Zivilcourage. Er versorgte eine jüdische Familie nach Ladenschluss mit Essbarem. Das war verboten, denn an Juden durfte nicht mehr verkauft werden.

Die Villa des Konditors

Inmitten der Kinderwildnis an der Klüpfelstraße lüftete die Stadtkundige das Geheimnis der Stofftasche mit aufgedruckter Silberbrezel: Wibele für die Teilnehmer. 1763 erfunden von Jakob Christian Carl Wibel, dem Hoflieferanten des Fürsten zu Hohenlohe-Langenburg – und wegen ihrer kniffligen Herstellung auch „Geduldszeltle” genannt. Das Gebäck führte direkt in die Dillmannstraße zur Villa des Konditors Wilhelm Murschel. Seine Konditorei an der Königstraße, Ecke Poststraße war um 1860 absolut angesagt. „Es gab viele Torten. Sie waren mit wilden Zuckerkunstwerken verziert“, weiß Annik Aicher. „Zum Beispiel mit einer Wasserfontäne mit blauen, springenden Delfinen.“ Die Historikerin interessierte sich dafür wie der Zuckerguss gefärbt wurde und stöberte deshalb in alten Rezepten. Sie staunte nicht schlecht über den damals lockeren Umgang mit chemischen Stoffen: Gefärbt wurde mit Anilin, Schwefelsäure und Spiritus.

Drei Russinnen in Stuttgart

Nach Murschels Tod 1885 lebte der Schulreformer Christian von Dillmann in der Villa im Stil eines italienischen Landhauses. Später hatte Theodor Bäuerle, der Gründer der ersten Volkshochschule, hier seine Geschäftsstelle und schließlich wirkte der Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf, ein Kämpfer für die Geburtenkontrolle und gegen den Paragraf 218 an der neuen Volkshochschule.

Das Rätsel um die drei Matrjoschka-Püppchen, die als Zeitzeugen mitgetragen wurden, löste sich vor der Russischen Kirche. Die drei Russinnen am württembergischen Königshof – Katharina I., Königin Olga und deren Adoptivtochter Wera – hatten den russisch orthodoxen Glauben. Wera schließlich setzte 1895 den Wunsch nach einer eigenen Kirche in die Tat um. Erbauen ließ sie das historistische Gebäude von den Architekten der Villa Murschel: Friedrich Eisenlohr und Carl Weigle.