Uli Hellweg ist ein Visionär mit Sinn fürs Praktische. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Uli Hellweg ist Chef der Internationalen Bauausstellung in Hamburg gewesen und weiß daher, welche Chancen so ein Städtebau-Experiment hat – und welche Risiken. Für die Iba in Stuttgart wünscht er sich ein ganz großes Projekt: die autarke Region.

Stuttgart - Der Mann ist praktizierender Visionär: Der Stadtplaner Uli Hellweg hat nicht nur verwegene Ideen, sondern auch Erfahrung in der Umsetzung. Als Chef der Internationalen Bauausstellung in Hamburg hat er das marode Stadtviertel Wilhelmsburg neu belebt. Im Blick auf die Iba in Stuttgart empfiehlt er „das Alte zur Blaupause für das Neue“ machen.

Herr Hellweg, viele Leute in Stuttgart hören von ihrem OB: „Ich habe Lust auf Iba.“ Aber es gibt noch kein Thema für die Internationale Bauausstellung. Können Sie helfen?
Es gibt Bauausstellungen, die aus Problemen heraus entstehen, und solche, die aus Chancen heraus entstehen. Stuttgart ist eine Chancen-Iba. Aber bei solchen besteht immer die Gefahr, dass man sich verzettelt. Es ist daher notwendig, einen eigenen kuratorischen Ansatz zu finden.
Wie könnte der aussehen?

In Stuttgart gab es einen Vorlaufprozess. Darin haben sich zwei starke Themen entwickelt, die man jetzt ausdifferenzieren müsste. Zum einen geht es um die regionale Entwicklung, also um die Frage, wie man das bisherige Konkurrenzdenken der Städte untereinander überwindet und stattdessen solidarische Räume schafft, um auch nachhaltig zu wirtschaften. Zum anderen geht es um die Zukunft des Industriestandorts Region Stuttgart. Wir stehen an der historischen Schwelle zur Industrie 4.0 und müssen nun darüber nachdenken, welche konkreten Auswirkungen das auf die Stadt, die Region, die Logistik, die Mobilität hat.

Die Pendlerströme sollen reduziert werden

Blicken wir auf das erste Thema: Wie wollen Sie die Interessen von 179 Kommunen in der Region Stuttgart unter einen Hut bringen?
Es muss Themen geben, die für alle eine Win-win-Situation abwerfen. Da geht es zum Beispiel um die gerechte Verteilung von Grünzügen, Wohnsiedlungen und Industriestandorten. Es muss sichergestellt sein, dass nicht die einen die Lasten tragen und die anderen den Profit abschöpfen. So eine Frage kann man nicht auf den Verkehr reduzieren, sondern man muss früher ansetzen. Die Pendlerströme müssen reduziert werden. Das kann gelingen, wenn man Wohnort und Arbeitsstelle wieder näher zusammenbringt. Oder schauen wir nach Rotterdam: Dort werden die Stoffströme ganz neu organisiert.
Was heißt das?
Es geht zum Beispiel um die Energieströme und um die Nahrungsmittelströme. Eine nachhaltige Landwirtschaft kann von der Abwärme einer Wohnsiedlung profitieren und damit ihre Gewächshäuser heizen. Man kann all diese Bereiche – von der Energie über den Abfall, das Abwasser, die Nahrungsmittelversorgung, die Mobilität – völlig anders organisieren als bisher.

Die Städte importieren alle Ressourcen: Menschen, Energie, Nahrungsmittel

Bisher ist die Versorgung eher punktuell organisiert: Hier die Supermärkte, dort die Landwirte, nochmal woanders die Industrie.
Tatsächlich leben wir in einem Importsystem. Die Städte importieren alle Ressourcen: Sie importieren Menschen, Energie und Nahrungsmittel. Städte geben nichts ab, nur ihren Abfall.
Eine provokante These . . .
. . . aber wahr! Schauen Sie nach Berlin oder Paris: Bis Mitte des 19. Jahrhunderts haben die großen Städte ihre Märkte mit Gemüse von ihren Rieselfeldern beliefert. Man konnte zu jener Zeit keine großen Transportwege zurücklegen. Dagegen waren die Rieselfelder eine vorindustrielle Art des Stofftransports: Das Abwasser aus den Aborten wurde dort so gefiltert, dass Gemüse wachsen konnte, das dann wiederum die Menschen in Paris ernährte.

Das Ziel: eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft

Sie wollen ernsthaft zurück in die Zeit der frühen Industrialisierung?
Ich will weg vom Importsystem, hin zu einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft. Beim Müll, der Energie liefert, haben wir das schon. Man kann auch die Energie des Abwassers nutzen. Und ich komme wieder zurück auf die Nahrungsmittel. Manche Megametropolen wie Sao Paulo sind inzwischen so groß, dass man kaum noch Nahrungsmittel zu vertretbaren Preisen dorthin bringen kann. Deswegen experimentiert man zum Beispiel mit der sogenannten Aquaponik, einem Stoffkreislauf, bei dem Fische gezüchtet und Nutzpflanzen angebaut werden können. Im Moment lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, bis ins Jahr 2050 sollen es 80 Prozent sein. Die Versorgung der Stadtbevölkerung ist ein Riesenthema, das man in der Region in und um Stuttgart, wo auch die Landwirtschaft eine Rolle spielt, innerhalb einer Iba behandeln kann.
Mit dem Ziel, eine autarke Kernregion in Baden-Württemberg zu haben?
Klingt vielleicht nach einer Spinnerei . . .
. . . durchaus . . .
. . . aber es wäre auch zu kurz gesprungen, wenn man sich jetzt nur mit Elektroautos und der Optimierung von Verbrennungsmotoren beschäftigen würde. Wenn der Grad der Selbstversorgung in einer Stadt und ihrer Region erhöht wird, hat man auch einen besseren Grad an Resilienz.
Wie meinen Sie das?
Unsere Städte werden immer verletzlicher. Das heißt, dass ihre Widerstandskraft gestärkt werden muss. Dies geht nur, wenn die Stoffströme anders organisiert werden. Einzelne kleine Regionen haben das vorgemacht: Die sind in der Lage, sich bei einem Blackout eine Weile selbst mit Strom zu versorgen. Wir hatten das Thema auch bei unserer Iba in Hamburg, wo wir im Stadtbezirk Wilhelmsburg die Haushalte durch erneuerbare Energien und spezielle Speichermethoden autark mit Energie versorgt haben. Jetzt darüber nachzudenken, wie man diesen Gedanken in einer Region mit 179 Kommunen und 2,7 Millionen Einwohnern umsetzen könnte, hat noch keine Iba zuvor gemacht. Damit hätte Stuttgart seinen ganz eigenen, ganz neuen Ansatz.

Die Industrie soll zeigen, ob sie bereit zu einem Wandel ist

Zum zweiten Thema, das Sie angesprochen hatten: der Strukturwandel der Industrie. Wie kann eine Iba darauf reagieren?
Zunächst muss die Industrie zeigen, dass sie wirklich bereit zu einem Wandel ist. Nur wenn auch die großen Unternehmen wie Daimler, Bosch oder Porsche ihre klügsten Köpfe zusammenbringen mit den Visionären einer Iba, kann die Raumschaft als Ganzes gedacht werden. Sonst bleiben die Ideen der Industrie mitunter unvollständig. Wenn Sie zum Beispiel sehen, wie das eine oder andere Unternehmen die Smart City der Zukunft plant, dann sieht das zwar bunt aus, aber auch kalt. Sie sehen die Energieströme und Autos, die sich ohne Fahrer bewegen. Aber es fehlen die Menschen. Niemand will dort wohnen.
Und wie wollen Sie die Firmen davon überzeugen, dass sie Verantwortung für die Gestaltung lebenswerter Städte übernehmen?
Auch da geht es darum, Win-win-Situationen herzustellen. Durch das Zusammenspiel von Stadtplanern und den Experten aus der Automobilindustrie können sowohl Mobilität als auch Produktionsprozesse ganz anders und viel nachhaltiger organisiert werden. Bei der Iba in Hamburg haben wir vor allem mit mittelständischen Betrieben zusammengearbeitet. Mit einer Firma, die Farben für den Airbus herstellt, haben wir zum Beispiel ein Tiefengeothermie-Projekt gemacht, damit das Unternehmen günstig an eigenen Strom kommt.

Das Alte soll zur Blaupause für das Neue werden

Und wie überwinden Sie die oftmals lange Strecke von Wohn- zu Arbeitsort?
Beides muss näher zusammengeführt werden. Bei jüngeren Menschen geschieht das bereits. Deren Kreativität entsteht häufig im urbanen Kontext. Sie gehen abends in eine Kneipe, es fällt ihnen etwas ein, sie gehen in ihr Atelier, schreiben die Idee auf und gehen danach zum Schlafen nach Hause. Am nächsten Morgen bringen sie ihr Kind zur Kita, und all das können sie im Nahbereich tun, weil sie nicht noch 50 Kilometer durch die Gegend fahren müssen, um von einem Lebensort zum anderen zu kommen. Bisher aber sind unsere Städte organisiert wie vor 100 Jahren: nach dem Vier-Köpfe-Modell mit einem arbeitenden Vater, einer erziehenden Mutter und zwei Kindern. Der Lebensstil hat sich aber geändert, und darauf muss eine Stadt reagieren.
Wie kann sie das?
Die Mischung ist entscheidend. Es ist kein Zufall, dass bei vielen jungen Menschen die Altbauviertel so beliebt sind. Dort entstehen Büros neben Wohnungen. Es gibt Kneipen und Kitas in fußläufiger Entfernung. Manchmal kann das Alte auch zur Blaupause für das Neue werden.