Beim Spaziergang mit Amy werden die Teilnehmer vom Marienplatz aus durch den Stuttgarter Süden gelotst. Foto: Heike Armbruster

Den Süden durch die Augen einer Fremden zu entdecken, dies ermöglicht der „Walk with Amy“. Amy geht gleichzeitig durch London, während sie mit dem jeweiligen Teilnehmer in Stuttgart per Handy telefoniert. Startpunkt der Stadtführung in Stuttgart ist der Marienplatz.

S-Süd - Zunächst ist Amy nur eine Stimme. Über die Frau, der die Stimme gehört, wissen die Teilnehmer der Stadtführung „A walk with Amy“ nichts – außer dass Amy sie von London aus anruft. Fröhlich begrüßt sie den jeweiligen Teilnehmer am Mobiltelefon und erklärt die Spielregeln für die nächsten 25 Minuten. Auf englisch beschreiben sich Amy und ihr jeweiliger Gesprächspartner, was sie sehen. Die eine in London, der andere im Stuttgarter Süden. Straßennamen sind tabu. Welche Richtung eingeschlagen wird, dass entscheiden beide gemeinsam. Der Reiz des „Walk with Amy“ ist, die Umgebung, die man glaubt zu kennen, neu zu entdecken.

„Normalerweise gehe ich eher schnell durch die Stadt, heute war ich eine halbe Stunde sehr langsam unterwegs“, beschreibt die Stuttgarterin Anne Weiß ihre ganz persönliche Stadtführung. Amy habe sie immer wieder dazu angehalten, genauer zu beschreiben, was sehe – ob es die Fassade des Mörike-Gymnasiums war oder der verwilderte Garten einige Meter davon entfernt. „Ich bin auch mit einem ganz anderen Bewusstsein durch die Böblinger Straße gelaufen“, erzählt Anne Weiß.

Jeder Teilnehmer entdeckt ein anders Stuttgart

Keine Stadtführung mit Amy ist wie die andere. Während der eine die Stäffele in Richtung Karlshöhe nimmt, schildert Amy, dass sie ein Haus entdeckt hat, das wirkt, als ob es darin spuke. Ein Haus im Nordwesten Londons, zum Teil verfallen, das Emily Brontës Roman Sturmhöhe entsprungen sein könnte.

Währenddessen blickt der Stuttgarter auf die Graffiti an den Betonwänden, die die Else-Himmelheber-Staffel schmücken. Amy zwingt die Person am anderen Ende der Leitung auf sehr charmante Weise, sich mit der jeweils unmittelbaren Umgebung auseinanderzusetzen, zum Beispiel zu versuchen, die Graffiti an der Mörikestraße zu entziffern. Zwischen den Namenstags der Sprayer findet der Stuttgart neben Botschaften wie „Viva la revolution“ tatsächlich auch ein „Frohes Ostern“.

Einfach mal die Perspektive wechseln

Das Konzept des Spaziergangs, der parallel durch London und den Stuttgarter Süden führt, hat Amy Sharrocks entwickelt. Sharrocks ist sowohl darstellende Künstlerin als auch Bildhauerin und Filmemacherin. Die Tour funktioniert als Stadtspaziergang, bei dem beide Teilnehmer sowohl Tourist als auch Touristenführer sind. „Freude, ein gewisser Sinn für Humor, aber auch für Risiko“, sind Amy wichtig und so kann es schon mal passieren, dass sie einem Teilnehmer der Tour rät, sich doch einen Hut zu kaufen oder ein Gebäude zu betreten, dass er gar nicht kennt. „Sich auf die Person am anderen Ende der Leitung zu konzentrieren und dabei den eigenen Eindrücken Priorität zu geben und diese zu teilen“, sagt Amy Sharrocks. Dies sei das, was sie an der Tour so fasziniere.

Dafür, dass der Spaziergang mit Amy umgesetzt werden kann, haben Susanne Kudielka und Kaspar Wimberley von Arttours gesorgt. Das Paar, das im Stuttgarter Westen lebt, hat sich zum Ziel gesetzt, die Stadt auf künstlerische Weise erlebbar zu machen. „Wir wollen mit unseren Stadtführungen einen Perspektivwechsel ermöglichen“, sagt Kudielke. Ziel sei es, einen Kontrast zu den typischen Führungen für Touristen zu setzen und so auch die Stuttgarter selbst zu erreichen. Arttours finanziert sich auf Spendenbasis. Die Touren, die vom Marienplatz ausgehen, hat zum Beispiel der Bezirksbeirat Süd mitfinanziert.

Ein anderer Blick auf Stuttgart

Neben Arttours haben sich auch andere Anbieter auf Führungen spezialisiert, bei der selbst eingefleischte Stuttgarter ihre Stadt noch einmal neu entdecken können. Mehrmals in der Woche führen Anette Ladovic und ihre Mitstreiter durch die Stuttgarter Innenstadt. Dort geht’s auf die Spuren von Sagen und Legenden. Die Geisterführung lotst die Besucher vorbei an Stiftskirche, Altem Schloss und Markthalle, aber auch an ungewöhnlichen Orten der Stadt. „Wir möchten nicht darüber informieren, wann welches Gebäude von wem erbaut wurde, sondern die Geschichten erzählen, die sich darum ranken – gruselige, tragische und auch mal blutige Geschichten“, sagt Anette Ladovic. Damit überrascht sie auch alteingesessene Stuttgarter immer wieder.

Auch bei Claudia Weinschenk nehmen überwiegend Stuttgarter an den Touren teil. Ihr Schwerpunkt liegt vor allem auf Alltags- und Sozialgeschichte und auf historischen Frauenfiguren. „Frauen sind in der Geschichte unterrepräsentiert. Deshalb möchte ich über Frauenbewegung, Erziehung und Berufsausbildung von Frauen informieren“, sagt sie.

An Orte ganz anderer Art bringt die Trott-war-Führung „Im Blickpunkt“ ihre Besucher. Die Verkäufer der Straßenzeitung, allen voran Thomas Schuler, haben die Rundgänge selbst konzipiert und bringen die Besucher an Brennpunkte und Anlauf- und Beratungsstellen für sozial Benachteiligte in der Stadt. Dabei erzählen sie von eigenen Erfahrungen. „Die Tour eröffnet eine ganz neue Perspektive auf die Stadt. Die Besucher werden sensibilisiert für das andere Leben in Stuttgart“, sagt Sandra Johnston vom Sozialdienst bei Trott-war.

Silke Amos wiederum eröffnet Stuttgartern unter anderem mit Stäffelestouren eine neue Perspektive auf ihre Stadt. Auch Kinder erkunden ihre gewohnten Gebiete durch Stadtrallyes oder Fotosafaris noch einmal neu.