Seit vielen Jahren autofrei: die 1,2 Kilometer lange Königstraße in Stuttgart Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Wohnen, Verkehr, Kultur – wohin steuert die Landeshauptstadt? Die großen Zukunftsfragen bekommen endlich die Aufmerksamkeit, die sie verdienen, meint Lokalchef Jan Sellner.

Stuttgart - Ein beliebtes Gedankenspiel: Wie sieht die Welt in 100 Jahren aus? Oder Baden-Württemberg in 65? Oder Stuttgart in 10? Besonders spannend sind die Antworten von Kindern (wegen ihrer blühenden Fantasie) und die von Ministerpräsidenten und Oberbürgermeistern, weil sie selbst beeinflussen können, ob ihre Ideen Wirklichkeit werden oder nicht.

Der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn hat soeben ein Bild vom zukünftigen Stuttgart entworfen – seine persönliche Stadtansicht in Form von Skizzen. Dazu gehört die Idee einer autofreien City. Kuhn sähe es gerne, wenn der Autoverkehr weitgehend aus der Innenstadt verschwände; eine Vorstellung, für die sich auch die Fraktion SÖS/Linke-plus einsetzt. Dem grünen OB schwebt ein ausgetüfteltes Parkleitsystem rund um den Stadtkern vor; innerhalb der City könnte die Fortbewegung dann per elektrischen Shuttles erfolgen.

Wandel mit dem Handel

Die Idee hat ihren Reiz. In Stuttgart darf gerne wieder etwas Modellhaftes entstehen. Immerhin nimmt die Stadt für sich in Anspruch, mit der Schulstraße 1953 eine der ersten Fußgängerzonen Deutschlands eingerichtet zu haben. Die 1,2 Kilometer lange Königstraße folgte in zwei Schritten in den 60er und 70er Jahren. Eine Pioniertat. Auch damals gab es Stimmen, die eine autofreie Königstraße für abträglich hielten. Die Praxis hat sie widerlegt. Das zeigt, dass es richtig ist, auch vermeintlich Undenkbares zu denken. Übrigens wurde schon in den 70er Jahren über ein E-Shuttle diskutiert.

Allerdings ist Kuhns Vision an viele Voraussetzungen geknüpft. Sie erfordert ein Gesamtkonzept städtischer Mobilität unter Einbeziehung der vielen Pendler. Innerhalb der Stadt muss er die Handelstreibenden für die Idee gewinnen. Viele können sich derzeit nicht vorstellen,wie die Geschäfte autofrei laufen sollen. Die Stimmung dort ist angespannt. Das spiegelt sich auch in der Auseinandersetzung über die angekündigten Fahrverbote an Feinstaubalarmtagen wider. Schon deshalb muss gelten: Wandel nicht gegen, sondern mit dem Stuttgarter Handel.

Große Stadtdebatten fehlen

Wichtig für eine Stadtgesellschaft ist, dass es überhaupt Raum für die Beschäftigung mit Zukunftsfragen gibt. Man kann nicht behaupten, Stuttgart hätte diese Fragen verschlafen. Allerdings floss die Energie jahrelang in die Auseinandersetzung über S 21. Das war verdienstvoll und ein Ausweis großen Bürgerengagements. Thematisch aber mündete es in Verengung und Monotonie. Vieles andere kam zu kurz. Die wichtige Frage etwa, wie die riesige Brache namens Rosensteinviertel städtebaulich gestaltet werden soll – Stuttgarts Zukunftsquartier –, harrt trotz Bürgerbeteiligungsverfahren bis heute einer überzeugenden Antwort. Auch sonst gelang es dem amtierenden Oberbürgermeister bisher kaum, grundlegende Stadtdebatten anzustoßen und mit Schwung zu führen. Seinem Naturell nach ist Kuhn ein stiller Vordenker, kein lauter Vorreiter. Daran scheint sich jetzt etwas zu verändern – auch unter dem Druck eines Vereins aus Kulturschaffenden, der sich „Aufbruch Stuttgart“ nennt und ein verkehrsberuhigtes Kulturquartier rund um die Oper erreichen will.

Jedenfalls trommelt Kuhn nun kräftig für seine Vision eines neuen Konzerthauses und eines Neubaus des Linden-Museums, dem großen Völkerkundemuseum der Stadt. Das ist zu begrüßen. Allerdings muss endlich auch das lange vernachlässigte Thema bezahlbares Wohnen als Zukunftsfrage behandelt werden. Unbezahlbar darf in der Stadt zwischen Wald und Reben nur eines sein: die Mischung aus Flair und Natur, aus Weltoffenheit und Ortsansässigkeit, aus Hoch- und Stadtteilkultur, aus Gründergeist und Gut-sein-Lassen. Der Stuttgart-Mix, ergänzt um das Ideal sozialer Durchlässigkeit. Man könnte es eine Vision nennen.

jan.sellner@stzn.de