In seiner Weihnachtsbotschaft bietet der katholische Stadtdekan Christian Hermes ein Kontrastprogramm zu den Jingle-Bells-Geschichten und verspricht allen Gottesdienst-Besuchern: „Wer kommt, wird eine gute Zeit haben.“

Stuttgart - Herr Hermes, an Heilig Abend sind die Kirchen wieder voll. Vor allem mit so genannten U-Boot-Christen, die nur zu großen Festen auftauchen. Stört Sie das?

Nein, ich freue mich über alle, die kommen.

Ist es nicht ärgerlich, dass diese Leute nur an Weihnachten kommen?

Das ist eine falsche Perspektive. Für viele gehört der Besuch eines Gottesdienstes oder einer Messe an Weihnachten einfach dazu. Das zeigt doch, dass diese Menschen mehr wollen, als das, was konsum-gesellschaftlich als Weihnachten verkauft wird.

Als Pfarrer könnte man sich aber auch als Animateur fühlen, der die Leute bei ihrem Weihnachtsritual bespaßt.

Nein, die Kirche hat den Auftrag den Menschen zu dienen. Die Frage lautet daher: Wie gehen wir mit diesem Phänomen um?

Mit Toleranz?

Wenn Sie wollen. Wir wären wirklich Animateure, wenn wir das, was in der Gesellschaft ohnehin schon zelebriert wird, verstärken würden. Stattdessen müssen wir das Bedürfnis der Menschen nach diesem spirituellen Mehrwert stillen. Die Leute kommen ja nicht in Kirche, um die ganze Jingle-Bells-Geschichte noch mal zu hören.

Warum suchen viele Christen diesen Mehrwert nur an Weihnachten?

Ich glaube, dass viele mit Weihnachten eine ganz tiefe Sehnsucht verbinden. Und sie erleben, dass sie eine Würde haben, die sie nicht auf ihren sozialen Status reduziert werden. Stattdessen werden sie angenommen. An Weihnachten feiern wir genau dieses Menschsein.

Darin steckt eine Gesellschaftskritik.

Natürlich werden wir in dieser Welt sehr stark nach ökonomischer Leistungsfähigkeit bewertet. Oder nach Fitness, wenn man es aus der Perspektive der Lebensgrenze wie Alter, Krankheit oder Tod betrachtet. Wo finden denn Menschen heute noch eine unzerstörbare Akzeptanz? Ich erlebe es täglich, wie Menschen unter einem ungeheuren Druck stehen oder Abstiegsängste haben.

Auch in Stuttgart?

Ich nehme besorgt wahr, wie in einer sehr wohlhabenden Stadtgesellschaft Angst ein großes Thema wird. Auch weil wir uns auf viel weniger verlassen können. Selbst die Familien sind zerbrechlicher geworden. Es reicht tatsächlich nicht aus, dies nur einmal im Jahr zu erleben. Es reicht auch nicht aus, wenn es einem der Pfarrer sagt. Es muss in eine andere Lebensform Eingang finden. Wo kann ich einüben und lernen, dass ich als Einzelner geachtet bin.

Sie sprechen den Leistungsdruck in unserer Gesellschaft an. Steigert Weihnachten nicht genau diesen Druck? Jeder glaubt, er müsse an Heilig Abend ganz viele Erwartungen erfüllen.

Darin liegt wirklich eine Widersprüchlichkeit, wenn man sich beispielsweise einem Konsumzwang aussetzt. Oder wenn man unter dem Druck steht, dass Weihnachten unbedingt in größter Harmonie stattfinden muss. Daher muss ich noch einmal an vorher anknüpfen: Es reicht eben nicht, nur einmal im Jahr etwas tiefgründiger zu denken und zu erleben. Das ist, wie wenn ich nur einmal im Jahr Sport treibe. Da kommt nicht viel raus.

Sollten wir aus Weihnachten Alltag machen?

Das ist der Punkt. Dieses Bewusstsein sollte kulturprägend werden.

Stattdessen prägt der Konsumrausch unsere Kultur.

Diese materialistische Sicht, dass man nur glücklich sei, wenn man konsumiert, ist tragisch. Man muss so lange schuften, um sich diesen kleinen Glücksmoment leisten zu können. Insofern sind wir zu Konsum-Junkies geworden.

Heißt die Botschaft etwa: Ja nicht das neue iPhone 6 kaufen?

Wer ein Telefon braucht, soll sich das kaufen. Aber hier geht es ja nicht um ein Telefon. Es geht darum, dass Markenprodukte Fetische sind. Noch mal: Dem Glück auf diese materielle Weise hinterher zu laufen, ist tragisch. Es tut mir leid, wenn ich sehe, wie Menschen darin gefangen sind.

Wie kann man sich dem entziehen?

Indem man sich andere Kreise sucht. Freunde, Familien, Gemeinden, in denen ich erfahre, dass ich nicht wegen dieser Statussymbole wichtig bin. Dort also, wo ich erlebe, dass ich dazu gehöre. Anders als in einer Castingshow, in der ich aussortiert werde, weil ich es nicht bringe. Noch trauriger ist allerdings, dass gerade Kinder diesem Konsumdruck wehrlos ausgeliefert sind.

Diese Gemeinschaft finden viele Jugendliche gerade eher bei einem gemeinsamen Einkauf in einem Shopping-Center. Stuttgart ist derzeit das Mekka des Konsums. Betrifft Sie das?

Ich mache mir Sorgen, denn das ist schon sehr entlarvend, was in der Stadt passiert. Ist es denn die einzige Vision der Stadt, das Mekka des Konsums zu sein? Diese Center sind tatsächlich Pilgerstätten – tragische Pilgerstätten. Denn dort habe ich nur etwas verloren, wenn ich auch etwas kaufe. Ich bin nur dann erwünscht, wenn ich Umsatz mache. Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin nicht gegen eine gute wirtschaftliche Entwicklung in der Stadt.

Sondern?

Gegen diese Konsumtempel, aus den Menschen allzu oft frustriert statt glücklich rauskommen, weil sie sich die Dinge nicht leisten können.

Was macht dann glücklich?

Etwas für andere Menschen zu tun.

Wie gelingt das – gerade an Weihnachten?

Bei der Caritas in Österreich kann man symbolisch Ziegen für ein Entwicklungsland kaufen. Sagen doch auch Sie zu Ihrer Frau: Schatz, dieses Jahr gibt es keinen Diamantring, sondern 40 Ziegen, die ein Bauer aus dem Sudan für dich aufzieht. Oder schenken Sie Zeit und Aufmerksamkeit. Fragen Sie bei der Caritas nach, was sie tun können.

Die Leser der StN könnten sich nach der Lektüre dieses Interviews eigentlich einen Kirchenbesuch an Weihnachten sparen. Oder gibt es Gründe doch zu kommen?

Auf jeden Fall. Wir haben fantastische Weihnachtsgottesdienste. Und ich kann versprechen: Wer kommt, wird eine gute Zeit haben. Meine Hoffnung wäre, diesen Menschen etwas mitzugeben. Nämlich die Erkenntnis, dass da etwas ist, das mir in dieser Gesellschaft wirklich helfen kann.