Im Prozess um den schweren Unfall zweier Stadtbahnen im Februar 2024 kommen Unfallopfer zu Wort. Das Schicksal einer jungen Frau macht betroffen.
Die 28-Jährige hat ein Holzbrettchen vor sich liegen, und wenn sie spricht, tippt ihr linker Zeigefinger von Feld zu Feld. Das Silbenbrett hilft ihr, „damit ich langsamer und deutlich spreche“, sagt sie, „sonst rede ich zu schnell und unverständlich.“
Der schwere Stadtbahnunfall am 23. Februar 2024, als in Wangen eine U9 fast ungebremst auf eine stehende U4 auffuhr, hat die junge Frau besonders getroffen. Im Prozess gegen eine damals 47-jährige Stadtbahnfahrerin, die vor dem Amtsgericht wegen fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Gefährdung des Bahnverkehrs angeklagt ist, schildert sie am Donnerstag ihren Kampf zurück ins Leben, ehe Amtsrichter Gerhard Gauch am Nachmittag sein Urteil fällt.
Bei einem der schwersten Stadtbahnunfälle Stuttgarts waren vor anderthalb Jahren 17 Menschen teils schwer verletzt worden, der Schaden geht in die Millionen. Die junge Angestellte aus Botnang weiß nicht mehr, was da geschah. Sie saß ganz vorne links, hinter der Fahrerkabine, als die Bahn kurz vor 10 Uhr zwischen den Haltestellen Inselstraße und Wasenstraße mit etwa 25 km/h auf den vorderen gelben Zug auffuhr.
Fahrgäste stürzten, die damals 26-Jährige aber wurde durch die Seitenscheibe nach draußen geschleudert und blieb lebensgefährlich verletzt auf den Gleisen liegen. Und in der allgemeinen Panik erst einmal unbemerkt. Erst ein Zeuge im ersten Stock eines Gebäudes gegenüber sah die Verletzte.
Bisher 55 000 Euro Schmerzensgeld von den SSB
Sie sei „komplett weg“ gewesen, sagt sie im Takt ihrer Finger auf dem Silbenbrett. Lange Zeit lag sie mit schweren Schädelverletzungen im Koma, und als sie aufwachte, habe sie nicht einmal ihren Freund erkannt. Auch später habe sie mit ihren Angehörigen nicht sprechen können, sie alle nur angeschrien, weil sie sich nicht verständlich machen konnte. Sie habe einen epileptischen Anfall erlitten, „als meine Schädeldecke wieder eingesetzt wurde“, sagt sie. Klinikaufenthalte, Reha-Aufenthalte dienten dazu, ihre Beweglichkeit wieder herzustellen. Bis Sommer 2024 saß sie im Rollstuhl, danach ging es langsam aufwärts – und voran.
Und heute? Wie geht es einer jungen Frau, die einst als Angestellte im Kundendienst arbeitete und wohl Rente beantragen muss? „Ich kann nicht rennen, ich kann nicht joggen, meine rechte Hand funktioniert noch nicht“, antwortet sie Richter Gauch. Immerhin: Die Sprache funktioniert immer besser, sie lächelt. Im Prozess tritt sie als Nebenklägerin auf. „Die Stuttgarter Straßenbahnen haben die Haftung anerkannt“, sagt ihr Anwalt Benjamin Veyhl, „es wurden alle Therapien gefördert, was angefordert wurde, das wurde bezahlt.“ Bisher seien von den SSB 55 000 Euro Schmerzensgeld gezahlt worden.
Schlafprobleme der Fahrerin waren bekannt
Mehr Glück hatte eine heute 20 Jahre alte Studentin, die vorne rechts saß, als die tonnenschwere Bahn auf das Hindernis einschlug. Auch sie wurde nach draußen geschleudert, nach rechts, auf die Seite, auf der Ersthelfer und Rettungskräfte herbeieilten. Auch sie erlitt Kopfverletzungen, Prellungen, Mundverletzungen ein Trauma, ein verletztes Handgelenk. Wie sie raus auf die Straße kam, weiß sie nicht mehr.
Überhaupt gibt es nicht viel, an das sie sich erinnert: Sie habe gelesen, dann ein lautes Geräusch – auf dem Gehweg kam sie wieder zu Bewusstsein. Einen Strafantrag gegen die heute 48-jährige Angeklagte hat sie nicht gestellt: „Sie hat doch schon genug erlebt, sie hat es doch auch schwer getroffen“, sagt sie. Gleichwohl: Auch die Studentin aus Freiburg hat psychische Probleme davongetragen. „Ich war ängstlich und geriet schnell in Panik.“
Die Unfallursache ist für die Anklage und Nebenklage ziemlich eindeutig: Die Fahrerin, die selbst schwere Verletzungen davontrug, habe seit Jahren unter einer Schlafapnoe gelitten und hätte hierfür nachts regelmäßig ein Diagnosegerät tragen müssen.
In der Nacht vor dem Unfall habe sie nur dreieinhalb Stunden geschlafen, ehe sie frühmorgens ihren Dienst angetreten habe, so der Staatsanwalt. Sie sei wohl eingeschlafen. Da sie sich subjektiv immer zu gut eingeschätzt habe, gegen den Rat einer Lungenfachärztin eine Woche zuvor, müsse man hier gar einen Vorsatz annehmen. Am ersten Tag des Prozesses vor über einer Woche hatte ein Sachverständiger auch die Frage aufgeworfen, warum der Arbeitgeber SSB sie trotz Hinweisen noch im Schichtdienst eingesetzt habe.
„Seit dem Unfall sitze ich in der Bahn immer in der Mitte“
Amtsrichter Gauch hörte am Donnerstag insgesamt neun Verletzte als Zeugen, die den Unfall unterschiedlich verarbeitet haben. Ein 59-Jähriger und eine 40-Jährige berichten, dass sie die stehende Bahn vor ihnen noch bemerkt und sich über das hohe Tempo der eigenen Bahn gewundert hätten. Einer habe noch den Nothalt ziehen wollen.
Bei den meisten hat der Schreck inzwischen nachgelassen. Manche haben einen Strafantrag gestellt, andere nicht. „Das habe ich gar nicht gewusst“, sagt eine 51-jährige Arbeiterin. Eine 59-Jährige dagegen pocht auf den Strafantrag: „Das angebotene Schmerzensgeld von 300 Euro ist eine lächerliche Summe“, sagt ihre Tochter. Eines aber eint die Betroffenen: „Seit dem Unfall sitze ich in der Bahn immer in der Mitte“, sagt eine 40-jährige Frau aus Rohracker, „nie ganz vorne oder ganz hinten.“