Lyrik unterwegs: Seit einem Vierteljahrhundert sind Gedichte die Begleiter im Berufs- und Feierabendverkehr. Foto: Leif Piechowski

Seit 25 Jahren beglücken die Stuttgarter Straßenbahnen ihre Fahrgäste mit klugen Texten.

Stuttgart - Es gab Zeiten, da hatte sich Günter Grass noch nicht mit einem umstrittenen Israel-Gedicht ins Abseits manövriert. 2006, während der Fußball-WM, rollte sein Gedicht „Nächtliches Stadion“, auf Folie in die Stadtbahnzüge geklebt, durch die Stadt: „Langsam ging der Fußball am Himmel auf. Nun sah man, daß die Tribüne besetzt war. Einsam stand der Dichter im Tor, doch der Schiedsrichter pfiff: Abseits.“

Lyrik in der Stadtbahn, ein abseitiger Gedanke? Richtet sie sich an den Bildungsbürger, der seinen Goethe und Novalis ohnehin kennt? Oder will sie die Rapper-Generation von 50 Cent oder Eminem weglocken auf die richtige Schiene zu Hofmannsthal oder Hölderlin? Ey Alter, das is n Kalter, wird die coole Jugend da tönen.

Cool war im Sommer 2010 der Titel eines Gedichts der 15-jährigen Ingeborg Wenger vom Dillmann-Gymnasium, das es in die Stadtbahnen schaffte. „Was ist cool – gegelte Haare, Hosen in den Kniekehlen /  Was ist cool – bauchnabelfreies Top, knallenge Jeans, was ist cool – Minirock, Glitterhemd . . .“

Alle sechs Monate wird neu geklebt

Seit 30. Juni 1987 sind in den Zügen und Bussen der Stuttgarter Straßenbahnen AG 360 Gedichte durch die Stadt gefahren. Den Anfang von „Lyrik unterwegs“ machten Johann Wolfgang von Goethe („Woher sind wir geboren . . .“), Christian Morgenstern („Aus stillen Fenstern“) und Eugen Roth („Der Kreisel“). Manch ertappter Schwarzfahrer mag sich damals mit Josef Eberles Gedicht getröstet haben: „Ich bin eine Nadel im Kissen, ich bin an der Rose ein Dorn, und wer sich an einem gerissen, hat die Wahl zwischen Lachen und Zorn.“

Eine neue Wahl haben die Passagiere alle sechs Monate, wenn eine frische Staffel mit fünf, sechs Werken geklebt wird. Lyrik zum Nachdenken, zum Schmunzeln – oder zur souveränen Missachtung.

Die Idee für die Gedichtaktion im Nahverkehr stammt von Ursel Hosch aus Botnang. Die Studienrätin für Englisch und Französisch hatte in einer englischen Sprachzeitschrift gelesen, dass die U-Bahnen in London mit Gedichten unterwegs sind. Warum nicht auch in Stuttgart, fragte sich Ursel Hosch und reichte die Idee an die SSB weiter. „Dort war von Anfang an ein großes Interesse da“, erinnert sich Ursel Hosch mehr als ein Vierteljahrhundert später.

Initiatorin hat in der Jury keine Stimme

Inzwischen ist die Lyrik auf Schienen in Stuttgart ein Dauerbrenner. Und Ursel Hosch als Initiatorin hält die Begeisterung bis heute am Lodern. „Jedes Jahr schlage ich 70 mögliche Texte vor.“ Eine achtköpfige Jury mit Vertretern der SSB und Germanisten wählt dann ein gutes Dutzend aus. Fällt gelegentlich ein Lieblingsgedicht durch? „Ich habe in der Jury keine Stimme“. sagt Ursel Hosch, „ich kann manchmal nur flehentlich blicken.“

Auf diese stille Art hat sie im Lauf der Jahre einige Lieblingsgedichte in der Jury durchgebracht. Eine Auswahl liest Ursel Hosch gemeinsam mit SSB-Mitarbeitern auch vor. Zu hören sind sie seit 26. Juni unter der Telefonnummer 07 11 / 78 85 - 77 88. Der Titel der Aktion: Bei Anruf Wort.

1999 wurde die SSB-Lyrik erstmals mehrsprachig. Anlässlich der in Stuttgart stattfindenden Mittelmeerkonferenz lernten die Stadtbahn-Nutzer Lyrik aus Tunesien, Ägypten, Israel, Palästina, Türkei Griechenland und vielen anderen Ländern im Original und in der Übersetzung kennen. 2003 gab es unter dem Motto Frühling der Poeten eine gemeinsame Lyrik-Serie mit den Verkehrsbetrieben von London, Lyon, Marseille, Paris und Prag.

Wenn Ursel Hosch mit Verlagen Kontakt aufnimmt, die Rechte von interessanten Gedichten halten, legt sie immer die Kopie eines Artikels bei, der am 1. Juli 1987 in dieser Zeitung erschienen ist. Knitz sah damals in der Lyrikaktion im Nahverkehr den „unwiderlegbaren Beweis dafür, dass im Schwabenland die Hegel wirklich die Regel und die Hauff zuhauf gegenwärtig sind“.