Eine Kamera schützt Bürgermeister im Rathaus vor aggressiven Besuchern. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

In Amtsstuben herrscht häufig ein rauer Ton. Immer öfter attackieren Kunden die Mitarbeiter körperlich, bedrohen und beleidigen sie. Oberbürgermeister Fritz Kuhn zückt nun die Rote Karte.

Stuttgart - Fliegende Vasen, Hass-Mails oder gar Fäkalien auf dem Schreibtisch – verärgerte Bürger lassen sich allerhand Schikanen einfallen, und Mitarbeiter von Behörden sind den Attacken schutzlos ausgeliefert. Vor kurzem bestätigte eine Stadtsprecherin: „Die Gewalt verbaler und körperlicher Art gegenüber unseren Mitarbeitern nimmt zu.“ Insbesondere das Jobcenter, das Ausländeramt oder das Amt für öffentliche Ordnung sind davon betroffen, und auch die Mitarbeiter von Jugendamt, Sozialamt oder Bürgeramt müssen sich vor wütenden Besuchern hüten.

Mehr Kameras an Amtsstuben

Die ehemalige Sozialbürgermeisterin Gabriele Müller-Trimmbusch (FDP) war eine der ersten, die eine Kamera an ihrer Bürotür installieren ließ. Sie war mehrmals den Attacken eines Mannes ausgesetzt, der mit dem Verlauf eines Sorgerechtsstreitfalls nicht einverstanden war. Inzwischen hat selbst Bürgermeister Fabian Mayer, zuständig für scheinbar unverfängliche Themen wie Allgemeine Verwaltung, Kultur und Recht, ein elektronisches Auge an der Tür.

Doch Abschottung, bruchsichere Glastrennscheiben oder Wachpersonal sind nicht überall erwünscht und nicht der Weisheit letzter Schluss. Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) will das Sicherheitsgefühl verbessern und den Angestellten helfen. Dazu ist ein so genanntes Mitarbeiterunterstützungsteam (MUT) gegründet worden, dem 26 Mitglieder angehören. Außerdem unterzeichneten Kuhn und der Vorsitzende des Gesamtpersonalrats, Markus Freitag, eine Grundsatzerklärung gegen Gewalt am Arbeitsplatz. Die Erklärung und das Team will Kuhn als Stopp-Signal verstanden wissen; „wir werden alles dafür tun, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen und die Opfer zu unterstützen“.

Hemmschwelle sinkt

An die Spitze des Teams hat Kuhn mit Jürgen Häberle und Walter Zaiss keine Neulinge gestellt. Jürgen Häberle ist Personalratsvorsitzender der Branddirektion und fährt auf Feuerwache 5 im medizinischen Rettungsdienst mit, Zaiss ist Pfarrer im Ruhstand und hat langjährige Erfahrung in der Notfallseelsorge. Außerdem leitet Zaiss das Einsatzkräftenachsorgeteam der Stuttgarter Feuerwehr.

„Die Hemmschwelle der aufgebrachten Leute verändert sich nach unten – auch gegenüber von Rettungs- und Ordnungskräften“, sagt Jürgen Häberle. Wie 2016, als einem Mitarbeiter des Vollzugsdienstes ein Ohr abgebissen worden ist. Beim Arbeitsamt blieb in schlechter Erinnerung, dass ein Klient einen Mitarbeiter verbal bedrohte, sich über alle Hierarchieebenen hinweg Gehör verschaffen wollte und zuletzt Fäkalien auf dem Schreibtisch eines Sachbearbeiters platzierte. Er wurde angezeigt und musste sich strafrechtlich verantworten.

Gespräche zum Abbau von Ängsten und Verunsicherung

Türen, die absichtlich laut zufallen, sind so häufig wie Klienten, die sich drohend über den Tresen beugen und Mitarbeiter darauf aufmerksam machen, dass sie von Steuergeldern bezahlt werden und zu spuren haben. Zusammenstöße mit so genannten Reichsbürgern nehmen zu. Das sind Leute, die die Existenz der Bundesrepublik leugnen und daher beispielsweise auf einen Reisepass des Deutschen Reichs bestehen. Auch Beleidigungen und Hassbotschaften per Mail setzen den Beschäftigten zu.

„Es ist wichtig, dass sie sich jemandem anvertrauen können“, sagt Häberle. „Wir Leute aus dem Team hören zu, sprechen die gleiche Sprache, zeigen Präventionen und Hilfsangebote auf und vermitteln bei Bedarf an ärztliche Fachkräfte weiter.“ Könnten die Betroffenen nicht über ihre Ängste sprechen, machten sich Selbstzweifel, Unsicherheit, und Gereiztheit breit. So verhindere man mitunter posttraumatische Belastungen und krankheitsbedingte Ausfallzeiten. Beispiel: Im Ordnungsamt führten im Jahr 2015 vier Übergriffe zu 160 Ausfalltagen.

Übergriffe werden erstmals statistisch erfasst

Einen Überblick über die gesamten Vorfälle und deren Auswirkungen gibt es nicht; erst von nun an sollen sie statistisch erfasst werden. Damit geht ein lang gehegter Wunsch des Gesamtpersonalrats in Erfüllung. In einem Jahr will man die Ergebnisse auswerten. Mit der Grundsatzerklärung bekennt sich die Stadt außerdem zu einer „aktiven Unterstützung“ der Beschäftigten, beispielsweise bei der strafrechtlichen Verfolgung der Täter, bei der Geltendmachung von Ansprüchen oder bei der Durchsetzung von Hausverboten.