Auch in einer Gutverdienerstadt haben immer mehr Menschen Geldsorgen. Das beobachtet unser Kolumnist Peter Stolterfoht tagtäglich.
Letzte Woche mal wieder mit dem freundlichen Mitarbeiter einer Reinigung im Stuttgarter Westen ins Gespräch gekommen. Es ging diesmal um das Wochenendprogramm. Seines war doch sehr überschaubar. Er plane, von Samstagnachmittag bis Montagmorgen nonstop auf dem Sofa oder dem Bett zu liegen und dabei so viel wie möglich zu schlafen. Neue Kräfte sammeln, nannte er das. Neben seinem Job in der Reinigung sei er auch in einem zweiten tätig, lautete die Erklärung. Dadurch sieht seine Arbeitswoche folgendermaßen aus: Von Montag bis Freitag arbeitet er von 6 bis 14 Uhr als Paketauslieferer und danach von 16 bis 20 Uhr in der Reinigung, wo regelmäßig am Samstag auch noch mal acht Stunden dazukommen. „So arbeiten doch heutzutage viele Leute, geht doch nicht anders“, meinte er zu seinem Pensum. Ärgerlich sei dabei nur, dass ihm nicht einmal diese Knapp-70-Stunden-Woche reiche, um später von der daraus resultierenden Rente leben zu können. Weiterarbeiten bedeutet das. Und das in Stuttgart, wo die Beschäftigten so viel verdienen wie in keiner anderen deutschen Landeshauptstadt, nämlich im Durchschnitt 56 160 Euro im Jahr.
In dieser Schlange reiht sich niemand ohne Not ein
Selbst in dieser reichen Stadt wird die Armut immer deutlicher sichtbar. Zu beobachten an Orten, die kostenlose Hilfe anbieten. Die Schlange vor dem Tafelladen am Österreichischen Platz reicht vormittags mittlerweile schon gut 100 Meter die Immenhofer Straße hinauf. Und dort reiht sich kaum jemand ein, der es nicht nötig hätte, steht man doch stundenlang wie auf einem Präsentierteller. Und es dürften künftig immer mehr Menschen werden, die Angebote von Tafel oder Vesperkirche in Anspruch nehmen – angesichts stark steigender Lebensmittelpreise, explodierender Energiekosten und einer sich noch schneller als erwartet verschärfenden Altersarmut.
Nehmen wir jetzt Berlin. Die Hauptstadt ist ja schon immer in vielen Bereichen eine Stadt der Extreme. Dort sind auch Reichtum und Armut viel deutlicher zu erkennen. Die entsprechenden Gruppen haben sich immer weiter auseinandergelebt, sind räumlich viel klarer voneinander getrennt. Im Gegensatz dazu gibt es in Stuttgart nur wenige ganz klar zu identifizierende Problem- und Villenviertel. Stattdessen ist es keine Seltenheit, dass in derselben Straße ein Millionär und ein Sozialhilfeempfänger fast schon Tür an Tür lebt. Dieses Nebeneinander ist eine große Stärke Stuttgarts, weil es dazu beiträgt, dass der Starke den Schwachen nicht aus den Augen verliert und ihn auch eher unterstützt.
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In keiner anderen deutschen Großstadt hat bürgerschaftliches und uneigennütziges Engagement eine solche Tradition wie in Stuttgart. Das ist der Kitt für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Diese ausgeprägte Hilfsbereitschaft ist zuletzt auch bei der Unterstützung der vielen Flüchtlinge aus der Ukraine deutlich geworden. Eine solche Aufgabe wäre allein mit den der Stadt zur Verfügung stehenden öffentlichen Mitteln überhaupt nicht zu stemmen. Wenn es aber irgendwann selbst Stuttgart nicht mehr schaffen sollte, die großen sozialen Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen, müsste einem das große Sorgen machen.