Wird in Stuttgart zuviel genörgelt? Verkennt man die Stadt? Es lohnt sich, sie mal durch eine andere Brille zu sehen. Ein Kommentar von Jan Sellner.
Der Blick von außen tut immer gut. Auch der Blick von außen auf Stuttgart. Manches stellt sich dann anders dar. Oder sticht einem überhaupt erst ins Auge. Oder relativiert sich. Ein Austausch mit Gästen über deren Wahrnehmung von Stadt und Leuten ist in jedem Fall ein Gewinn.
Das gilt ganz sicher für die Begegnung mit Robert Nemes aus Graz, der Stuttgart wie eine große Liebe beschreibt, was die Stadt für ihn auch ist. Seine „Lebensliebe“ nennt er sie, und deshalb zieht es ihn so oft wie möglich hierher. Ein Stuttgart-Aufenthalt ist für ihn wie ein Auf-Flitterwochen-Sein. Am liebsten wäre er für immer hier, doch die von ihm verehrte Stadt macht es ihm bei der Wohnungssuche nicht leicht. Dabei gibt es reichlich Leerstand, wie er in Erfahrung gebracht hat. Außerdem vermisst der Stuttgart-Liebhaber ein großes Kaffeehaus, wie in Graz, wo man bis in den Abend hinein sitzen, Kaffee trinken und Zeitung lesen kann. Nicht alles in Stuttgart, so hat Robert Nemes bei seinen vielen Aufenthalten festgestellt, ist hier rosarot. Für „weltweit einmalig“ hält er jedoch Stuttgarts Topografie. Und die Weinberge mitten in der Stadt. Überhaupt, das viele Grün ringsum. Stuttgart ist für ihn „wie eine Stadt, die in einen Garten hineingesetzt worden ist“. Eine fast lyrische Beschreibung. Das sollte einem Hiesigen mal einfallen.
Vielleicht ist Stuttgart noch nicht das, was es sein könnte?
Viele der Hiesigen haben eine eher nüchterne Wahrnehmung der Stadt. Ihr Blick klebt an Dauerbaustellen und an Müll und anderen Unzulänglichkeiten. Es gibt die Neigung, lieber über Plätze zu sprechen, die man meidet, als über solche, die man gerne aufsucht. Manche Stuttgarter sind sogar der Meinung, man könne heutzutage „gar nicht mehr in die Stadt gehen“, weil sie nicht mehr das sei, was sie einmal war. Doch welche Stadt – und welche Stadtgesellschaft - ist noch die alte? Veränderung ist das Kennzeichen unserer Zeit. Und vielleicht ist Stuttgart einfach auch noch nicht das, was es sein könnte? Das Potenzial der Stadt, speziell ihr kreatives Potenzial, ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft.
Doch das Nörgeln, das hier Bruddeln heißt, ist Teil des Grundrauschens. Einem jungen Fotografen, der viel in der Stadt unterwegs ist, begegnet es auf Schritt und Tritt. Auch sein Blick, der Fotografenblick, der bekannte und weniger bekannte Seiten Stuttgarts ausleuchtet, ist aufschlussreich. Warum, fragt er sich, wird soviel geklagt? Warum ist die Stimmung so, wie sie ist, und nicht besser? Nicht nur in Stuttgart, aber eben auch hier. Und diese Frage ist sehr berechtigt.
Von anderen Städten lernen
Stuttgart ist eine lebenswerte Stadt! Das festzustellen, heißt nicht, die handfesten Probleme, die es gibt (strukturelle Verwerfungen, verdeckte Armut, Sanierungsstau, etc.) schön- oder kleinzureden. Diese Probleme gilt es, zu identifizieren und anzugehen. Gleichzeitig besteht keine Verpflichtung, kleine Probleme groß zu reden. Wenn wir uns mit anderen vergleichen, dann gehört dazu die Feststellung, dass es vielen in dieser Stadt vergleichsweise gut geht. Auch der Stadt selbst – trotz aller Herausforderungen, die sich durch stark sinkende Einnahmen ergeben.
Daraus spricht nicht Selbstgenügsamkeit. Im Gegenteil. Es braucht den Vergleich mit anderen Städten, denn er kann inspirierend sein. Von Städten wie Berlin oder Zürich kann man beispielsweise lernen, wie Geschichte selbstverständlicher Teil des öffentlichen Raums ist. Von Paris kann man lernen, wie sich versiegelte Flächen in einen Stadtwald verwandeln lassen – es muss ja nicht, wie dort, der Platz vor dem Rathaus sein, der Pariser Platz beim Hauptbahnhof täte es auch! Und von Graz lernt man, dass anderswo Menschen wohnen, die Stuttgart ziemlich cool und liebenswert finden.