Professor mit Bart und Ideen: Olaf Kühne von der Universität Tübingen will die Städte wieder für die Menschen reservieren. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Wer den Spiegel vorgehalten bekommt, weiß danach, was ihm fehlt. Im Fall des Verkehrs und der Infrastruktur ist das in Stuttgart ganz schön viel, meint Lokalchef Holger Gayer.

Stuttgart - Die Sache mit dem Spiegel ist fies. Gefühlte 1000 Jahre nach dem Auftritt von Schneewittchens Stiefmutter („Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“) erhalten wir Zentralschwaben immer noch nicht die Antworten, die wir hören wollen. Zumindest nicht, wenn’s um Verkehr geht.„Schockiert“ sei er über die hiesige Infrastruktur, sagte Michael Trinkner beim StZ-Kongress „Stadt der Zukunft – Zukunft der Stadt“. Nach Stuttgart zu kommen, sei wie eine Reise in die 60er Jahre.

Das Schlimme ist: Der Mann weiß, wovon er spricht – und das gleich in zweifacher Hinsicht. Trinkner ist Stadtplaner und gebürtiger Stuttgarter. Allerdings lebt und arbeitet er seit mehr als 30 Jahren nicht mehr hier, sondern in Rotterdam. Von dort aus ist er in der Welt unterwegs, entwirft Stadtquartiere in Singapur oder Montpellier, die eines eint: Sie sind für die Menschen da, nicht für deren Autos.

Der Wissenschaftler verbreitet Aufbruchstimmung

Und dann kommt gleich noch so ein Spezialist ums Eck, von der Uni Tübingen diesmal, doppelt promoviert in Volkswirtschaftslehre und Geologie, und verbreitet Aufbruchstimmung: 60 Prozent der städtischen Flächen hätten wir nach wie vor an Autos vermietet, sagt dieser Prof. Dr. Dr. Olaf Kühne beim nämlichen Kongress und ruft: „Holen wir sie uns zurück!“

Ja, haben wir denn schon Revolution?

Um ehrlich zu sein: Ja, wir stecken mitten drin. Endlich!

Die Lust an neuem Wohnen, neuen Fahren, neuem Leben

Selten hat man so viel Lust auf neues Wohnen, neues Fahren, neues Leben gespürt wie im Herbst dieses Jahrzehnts. In Kopenhagen, in Vilnius, in Portland (die Liste ließe sich fortsetzen) entstehen Viertel, die nicht nur auf Bildern faszinieren, sondern durch die Horizonte, die sich dahinter öffnen. Da fühlt man Gemeinschaft, Kultur, Zugewandtheit. Und dann tritt man wieder hinaus ins Stuttgarter Europaviertel und bemerkt, wie verhockt wir Schwaben bisweilen doch sind inmitten der großen Straßen und der großen Häuser, die wir gebaut haben, weil wir das für Großstadt hielten.

Doch bevor wir den Stab über uns brechen, sollten wir daran denken, woher der Luxus kommt, der es uns erlaubt, über derartige Fragen zu diskutieren: von den Autos. Unsere Opas und Väter haben sie gebaut. Ihnen verdanken wir unseren Wohlstand. Und ihren Erfindergeist samt ihrer Tatkraft sollten wir zum Vorbild nehmen, wenn wir jetzt an der Stadt der Zukunft bauen. Dabei geht es auch darum, alte Errungenschaften zu verbessern. Vor allem aber müssen wir neue Konzepte entwickeln – in kleinen und großen Firmen ebenso wie in kleinen und großen Rathäusern. Fehler müssen dabei ausdrücklich erlaubt sein. Nur einer bitte nicht: Stillstand.

Zwei Wegweiser in die neue Richtung

Was das konkret heißt? Wir sollten kleine Entscheidungen eher zugunsten der Fußgänger treffen als zum Wohl der Autofahrer, wie nun mit dem Überweg an der B 14 geschehen. Und wir sollten große Würfe einfordern (und dann auch fördern), wie beim Projektaufruf zur Internationalen Bauausstellung 2027 in Aussicht gestellt. Das sind zwei Wegweiser innerhalb einer Woche, die eine neue Richtung vorgeben. Märchenhaft ausgedrückt: Hin zu den Bergen bei den sieben Zwergen, wo es zwar noch welche gibt, die schöner sind als wir.

Aber wir können ja aufholen.