Der Regisseur Stefan Pucher (51) inszeniert in Stuttgart Horváths „Kasimir und Karoline“ Foto: Arno Declair

Horváths „Kasimir & Karoline“ ist eine traurige Liebesgeschichte. Mehr noch interessiert sich Stefan Pucher für die Zeit des politischen Umbruchs, von der das Volksstück auch erzählt. Der Regisseur bringt das Drama am Schauspiel Stuttgart auf die Bühne. Eine Begegnung.

Stuttgart - Ein lauer Nachmittag. Stefan Pucher hält sein Gesicht in die Sonne, blinzelt. Nach diesem Gespräch ist Schluss für heute, in gut einer Stunde wird er sich aufs Rad schwingen, durch den Park bis zum Leuze radeln und wie jeden Tag, wie er sagt, eine Stunde schwimmen gehen. Manche Kollegen proben morgens und am Abend noch einmal. Ein bisschen müder Blick, erstaunlich leise, sanfte Stimme. „Ich bin ein Einmalprober“, sagt Pucher. Der Konzentration wegen, weil einige Schauspieler abends Vorstellungen haben und weil er Zeit für sich braucht. „Leben darf man nicht vergessen.“ Wie hell das ist. Die letzten Stunden hat der Regisseur im Probenraum der Staatstheater-Spielstätte Nord am Pragsattel verbracht. Sieht nach Arbeit aus. Bühnenfüllend ist ein riesiges Holzgestell, auf mehreren zusammengeschobenen Tischen liegen sorgfältig ausgekratzte Avocadohälften, Haarteile, künstliche Eiswaffeln, Dramentexte. High Heels auf dem Boden, ein Klavier in der Ecke.

Streit im Bierzelt

Musik wird es an diesem Samstag im Schauspielhaus geben, auch wenn Regisseure oft einen gewissen Ehrgeiz entwickeln, wenn es gilt, Regieanweisungen der Dramatiker zu ignorieren. Pucher inszeniert Ödön von Horváths „Kasimir und Karoline“, das Stück spielt auf dem Münchner Oktoberfest. Die Musik, ob Glühwürmchen-Suite oder Radetzkymarsch, kommentiert, kontrastiert, verstärkt, ironisiert, was vor dem Riesenrad oder im Bierzelt verhandelt wird. „Und dennoch hab ich harter Mann die Liebe schon gespürt“, zitiert Pucher aus dem Liedtext, den Kasimir auch aufsagt, aber mit dem Zusatz – „und sie höret nimmer auf, solang’ Du nämlich nicht arbeitslos wirst“. Pucher er zeigt sich beeindruckt davon, wie dramaturgisch klug Horváth die Musik setzt.

Noch treuer als an diese Regieanweisungen hält sich der studierte Amerikanist und Theaterwissenschaftler an den Text. Keine Improvisation, bitte. Der Regisseur winkt ab. Dabei hat Pucher, Jahrgang 1965, so am Theater angefangen. Künstlerisch sozialisiert wurde er in Frankfurt mit dem Tanz von William Forsythe, mit dem Theater von Einar Schleef. Und mit dem Theater am Turm (Tat), das freie Gruppen wie Gob Squad präsentierte und Talenten eine Bühne gab. Stefan Pucher begann mit Performances, Stückentwicklungen. Darauf hat er keine Lust mehr, sagt er. Warum? Er zerzaust sein blondiertes Strubbelhaar, schweigt. Das könne er nicht sagen. „Ich mag es nicht mehr.“

Alte Stücke neu schreiben: ein Trend

Bei aller Bewunderung für Horváths Kunst der Verknappung, der Auslassungen, seiner künstlichen Gossen-sprache, Pucher schätzt auch Texte, die heute entstehen. Elfriede Jelinek oder Rainald Goetz zum Beispiel. Und die Arbeiten seines Freundes René Pollesch, der seine Stücke aber lieber selber uraufführt – bis auf die wenigen Inszenierungen von Pucher. „Die meisten Autoren heute reizen mich nicht.“ Bei jüngeren Klassikern wiederum seien die Erben der Autoren allzu eifrige Hüter, was die Erlaubnis betrifft, die Texte umzustellen oder zu kürzen. „Theater ist doch kein Museum“, sagt Pucher. Man müsse überlegen dürfen, wie man ein Stück an die Jetztzeit anpassen kann.

Zum Theatertreffen mit Ibsens „Volksfeind“

„Aus Frustration über zu wenig gute Stücke“ habe er den Journalisten und Autor Dietmar Dath beauftragt, nicht ein neues Stück zu schreiben, sondern gebeten, ein altes Stück neu zu schreiben. Henrik Ibsens „Volksfeind“. Die Inszenierung am Zürcher Schauspielhaus wurde 2016 fürs Berliner Theatertreffen ausgewählt. Seine siebte Einladung seit 2002. Ob das jetzt so viel zur Aktualität beigetragen hat, im 1882 erschienenen „Volksfeind“ aus einer Zeitungsredaktion eine Online-Plattform zu machen? Pucher: „Man sagt immer bei einem Tschechow oder Ibsen, schau, deren Probleme sind genau die Probleme von uns heute. Das stimmt aber nicht. Es geht immer um die Differenz.“ Texte überschreiben liegt im Trend, Armin Petras hat Ibsens „Nora“ umgeschrieben, Simon Stone ist höchst erfolgreich mit seinen Palimpsesten, rotzigen Umdichtungen von Ibsens „John Gabriel Borkman“ und Tschechows „Drei Schwestern“, mit denen soeben das Theatertreffen eröffnet worden ist.

Liebe in politisch schwierigen Zeiten

Bei Horváth aber – kein neuer Text. Warum auch, bei Sätzen, die wirken wie soeben erst erfunden, komisch, frappierend direkt. Karoline und ihr neuer Verehrer Schürzinger zum Beispiel. Karoline sagt: „Du bist also ein berechnender Mensch. Auch in der Liebe?“ Und Schürzinger: „Nein, das ist ein krasses Missverständnis, was Du da nämlich jetzt denkst.“ Karoline: „Ich denke ja gar nichts, ich sage es ja nur.“ Eventuell wird Pucher noch Passagen aus anderen Horváth-Werken hinzufügen. Aber warum überhaupt Horváth? Zu Beginn der Spielzeit stand Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ auf dem Premierenplan. Das Projekt habe sich aber zerschlagen, sagt Pucher. Ihn treibe anderes um. Angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die in den USA, in Ungarn, in Frankreich, in Deutschland, in der Türkei geschehen, wirkte Alices Kampf mit Grinsekatzen und verrückten Hutmachern offenbar nicht mehr so interessant. Der Regisseur sieht vielleicht nicht schwarz, doch grau als Gefühlsfarbe wirkt ihm angemessen. Da passt „Kasimir und Karoline“ mit seiner bitteren Menschenmüdigkeit und den dumpf wabernden Nationalismus vieler Protagonisten besser. Kasimir hat seinen Job verloren, seine Freundin Karoline will sich trotzdem auf dem Oktoberfest amüsieren. Er ist schlecht gelaunt, davon wiederum bekommt sie schlechte Laune. Wobei man schon mal ein klein wenig missmutig sein darf, wenn man gerade arbeitslos geworden ist. Unvernünftig sind sie beide. Unsympathisch. „Finde ich nicht“ widerspricht Stefan Pucher, auch wenn er später zugibt, dass man Horváthfiguren nicht gleich mögen müsse. Aber Kasimir zu beobachten sei interessant, weil man bei ihm nicht weiß, welche politische Richtung er einschlägt. Und Karoline? „Eine moderne, selbstständige Frau. Sie verdient ihr eigenes Geld.“ Auch wenn sie überlegt, ob sie nicht ein schöneres Leben haben kann, wenn sie sich an einen reichen Typen hängt.

Demokratie und Terror

Mehr als an der Liebesgeschichte ist Pucher an den gesellschaftspolitischen Aspekten interessiert. Kasimir hadert mit dem Kapitalismus und mit seiner Arbeitslosigkeit, sagt Pucher, „aber wir leiden heute daran, dass die Arbeit, die wir haben, nichts mehr wert ist.“ Einen Blick in die Zeit zu werfen, als die Weimarer Republik zu Ende ging, sei spannend, um etwas über politische Mechanismen heute und womöglich über die Zukunft zu erfahren. Horváth schrieb das Stück kurz bevor die Menschen in Deutschland die Demokratie abwählten und Hitler zu regieren begann.

Der Regisseur, der sich während des Gesprächs von einer Assistentin zurufen lässt, was es im Internet gerade Neues an Schlagzeilen über die AfD zu lesen gibt, sagt „wir leben in einer Zeit, in der Menschen nicht wissen, ob sie nicht selber bald in einer Diktatur leben werden.“ Stefan Pucher findet bei Ödön von Horváth viele Themen, die heute virulent sind. Arbeitslosigkeit, Diskriminierung von Frauen, Demokratie, Terror. Wenn sie nicht gestrichen werden, könnte man am Samstag tatsächlich bei Horváth-Sätzen wie diesen schaudern: „die Staaten müssen wieder radikal national werden.“

Die Premiere ist an diesem Samstag um 19.30 Uhr im Schauspielhaus Stuttgart. Es gibt noch Restkarten.