Amanda Majeski als Iphigénie, Jarrett Ott als Oreste Foto: Martin Sigmund

Musikalisch ist Glucks „Iphigénie en Tauride“ in Stuttgart eine Wucht. Das von Stefano Montanari mächtig angeheizte Staatsorchester, der klangschöne Staatsopernchor, grandiose Sänger: Am besten macht man die Augen zu. Öffnen kann man sie im letzten Akt, denn da macht der Regisseur Krzysztof Warlikowski aus Bildern eine Geschichte – endlich.

Stuttgart - Es stürmt, es blitzt, ein Unwetter bricht herein. Kaum ist am Sonntagabend das Licht ausgegangen, ist das Opernhaus voller großer Gefühle, voller Leidenschaft, Tragik, Drama. Wie könnte es auch anders sein – schließlich geht es in Christoph Willibald Glucks Oper „Iphigénie en Tauride“ („Iphigenie auf Tauris“) um das Ende einer Familiensaga, die zu den blutigsten und tragischsten ihrer Art gehört. Wenn in der griechischen Mythologie von den Atriden die Rede ist, dann geht es um Betrug, Ehebruch, Inzest, Kindesmissbrauch, Kindesmord, Muttermord, Gattenmord. Auch zur Priesterin Iphigenie führt eine Blutspur hin, und wenn im Orchestergraben die Elemente toben, dann spürt man: Die Musik macht hörbar, was das Menschenherz zerreißt, das Unwetter findet also eigentlich auf der Bühne statt, in und mit den Menschen, die dort singen, ringen, leiden.

Dort oben aber ist alles still und schön. Zu den wilden Klängen der Ouvertüre, die Stefano Montanari am Pult des wunderbar vielfarbig, agil, feingliedrig und mit eminentem Klangsinn gestaltenden Stuttgarter Staatsorchesters mächtig vorantreibt, gehen neun alte Damen mit ernstem Blick eine nach der anderen nach vorne zur Rampe und wieder zurück, Schritt für Schritt: ein abgezirkeltes Défilée. Der Chor, der fleht und bangt und betet: Man hat ihn, der Glucks expressivem Stück so viel Farbe gibt, so viel Empathie und so viel theatralische Wucht, ebenso ausgesperrt von der Szene wie die Sänger der kleineren Partien. Bernhard Moncado hat den Staatsopernchor präzise einstudiert; er klingt, gerade im wirkungsvollen Gegeneinander von ätherisch schönen Frauen- und raueren Männerchören, oft geradezu herzergreifend schön. Aber sein szenisches Exil im hinteren Orchestergraben darf er nicht verlassen. So viel Oratorium gab’s in der Stuttgarter Oper selten.

Die Bühnen- und Kostümbildnerin Malgorzata Szczesniak hat einen großen rechteckigen Raum entworfen, den Sofas, Sessel, ein Tisch, Waschbecken, Duschen und rote Stehlampen zieren. Die greisen Statistinnen definieren die Bühne als Seniorenresidenz, in der die alte Iphigénie auf ihr Leben zurückblickt. Eine Plexiglasscheibe senkt sich immer wieder zwischen Vorder- und Hinterbühne, sie ist mal Spiegel, mal Fenster, und wenn sie, wie meistens, beides zugleich ist, dann zeigt der Regisseur Krzysztof Warlikowski, flankiert von exzellenter Lichtregie, Flashbacks der Protagonistin in kurzen Spielszenen von mal assoziativem, mal provokativ überzogenem, mal anrührend intimem Charakter. Schauspieler-Doubles spielen den Muttermord des Orest nach – und erklären dabei, wie oft an diesem Abend, Gewalt als Bestandteil eines erotischen Spiels. Eine alte Frau tanzt: hingebungsvoll, hinreißend. Iphigénie, im Laufe des Abends aufgesplittet in eine alte und eine junge Version, sieht, vor dem Spiegel stehend, ihr doppeltes Ich, das eine gespiegelt, das andere real.

Der Regisseur fragt nicht nach Herkunft und Mechanismen von Schuld und Traumatisierung

Das Spiel von Hinter- und Vordergrund fordert den Intellekt des Betrachters heraus. Wer ist gerade wer, was ist jetzt wo, und sind die drei toten Frauen im Hintergrund nun Alter Egos von Klytämnestra oder ihre drei Töchter Elektra, Iphigenie und Chrysothemis? Aber man muss hier nicht unbedingt suchen: Wo andere Regisseure mit Symbolen erklären, wo sie nach Beispielen und tiefenpsychologischen Erklärungen suchen, belässt es Warlikowski meist schlicht beim schönen, wirkungsvollen Bild. Er fragt nicht nach der Herkunft und den Mechanismen von Schuld und Traumata, dringt nicht in die seelischen Untiefen zweier Freunde ein, die beide unbedingt Opfer sein wollen, sondern beschränkt sich derart auf Arrangement und Dekoration, dass zunächst einmal nicht zu verstehen ist, warum der Opernintendant Viktor Schoner ausgerechnet diese 13 Jahre alte, so statisch und so fern wirkende Produktion von der Pariser Oper nach Stuttgart geholt hat.

Zum Glück gibt es die Sänger. Da ist Jarrett Ott, ein mit großer Präzision und Beweglichkeit singender, innerlich zunehmend weicherer Oreste; da ist Elmar Gilbertsson als Pylade, ein geschmeidiger, ungemein klangschöner, nur zuweilen in der Höhe etwas angestrengt wirkender Tenor; und da ist Amanda Majeski als ausdrucksstarke Iphigénie, deren Stärken (farbsatte Klänge, feine Pianissimi, profunde Tiefe) deutlich vor den Schwächen (dem gelegentlich zu starken Druck bei lauten, hohen Tönen) überwiegen. Auch Gezim Myshketa als Thoas im Rollstuhl macht seine Sache gut – bis hin zu seiner Ermordung in der Proszeniumsloge. Es könnte die erste in der Geschichte des Opernhauses gewesen sein.

Dann beginnt der letzte Akt. Und mit ihm kommen, plötzlich: Ironie, Reibung, ein weites Feld der Möglichkeiten. Daran ist auch Diana, die Dea ex machina, schuld, an deren Happy End man heute nicht mehr glauben kann. Krzysztof Warlikowski variiert hier die Szene des Anfangs, aber aus den Greisinnen sind schwarz gewandete Witwen geworden. „Regiere in Frieden dort!“, fordert die Göttin von Orest, den sie zurück nach Mykene schickt. In Stuttgart steht er mit blutbeflecktem Hemd in der Königsloge. Man denkt daran, dass Gluck seine Oper 1779 schrieb, kurz vor Ausbruch der französischen Revolution. Und man denkt daran, dass die griechische Mythologie Taurus eben dort verortete, wo heute die Krim ist. „Alles um uns ist nun hell!“, singt der Chor. „Wir stehen am Anfang eines langen und großen Friedens“, verheißen die Übertitel. Es gibt viel zu betrauern. Das Gesamtkonzept der Inszenierung, das so lange nicht überzeugte, mündet in ein nicht nur schlüssiges, sondern bedrückendes Ende.