Ernst Ludwig Kirchners „Ins Meer Schreitende“ Foto: Staatsgalerie

In der Staatsgalerie Stuttgart gibt ein ­Audioguide ab sofort Auskunft über die Hintergründe von elf Kunstwerken, die dem Kunstideal der Nazis widersprachen und deshalb von ihnen als „entartet“ diffamiert wurden.

Stuttgart - In der Staatsgalerie Stuttgart gibt ein Audioguide ab sofort Auskunft über die Hintergründe von elf Kunstwerken, die dem Kunstideal der Nazis widersprachen und deshalb von ihnen als „entartet“ diffamiert wurden. Auf der Tour durch die ständige Sammlung wird der Besucher von Werk zu Werk geführt oder kann sich mittels der Technik auf selbst gewähltem Weg informieren.

 

Wie sie ins Meer drängen! Hüllenlos, die Körper aufgerichtet, um ihre Fesseln schäumen die Wellen. Es ist ein selbstbewusst und natürlich wirkendes Paar, das Ernst Ludwig Kirchner 1912 auf der Insel Fehmarn in Öl auf Leinwand porträtierte. Ein „irdisches Paradies“ nannte der 1880 in Aschaffenburg geborene Maler und Grafiker die Küste Staberhuk, an der sich die Menschen wie selbstverständlich der Freikörperkultur hingaben. Das Werk „Ins Meer Schreitende“ gefiel dem Sammler-Ehepaar Rosi und Ludwig Fischer so gut, dass es das Bild für seine Sammlung expressionistischer Werke erwarb. 1926 verließ das jüdische Paar Deutschland, verkaufte 24 seiner Bilder gegen die Zahlung einer Leibrente an die Moritzburg in Halle. Die zahlte zunächst auch – bis Ernst Ludwig Kirchners Kunst von den NS-Ideologen als „entartet“ diffamiert wurde.

400 Kunstwerke der Staatsgalerie wurden nach 1933 erworben oder entstanden vor 1945

Auch die Söhne Fischer flohen vor dem Nazi-Regime. Das Werk wurde neben anderen vom Propagandaministerium beschlagnahmt und vom Kunsthändler Ferdinand Möller (1882–1956) „übernommen“. Der behielt das Bild, vergrub es 1945 in seinem Garten, nahm es 1948 mit in den Westen Deutschlands und verkaufte es später an die Staatsgalerie Stuttgart. „Im Jahre 2000 wurden von den Erben der jüdischen Familie Restitutionsansprüche an die Staatsgalerie gestellt“, erzählt Anja Heuß die Geschichte weiter. Heuß kennt als Provenienzforscherin der Staatsgalerie die Hintergrundstorys von mehr als 400 Kunstwerken im Haus, die nach 1933 erworben wurden oder die vor 1945 entstanden sind.

Insgesamt betrifft ihre Forschung und die ihrer Mitarbeiter 1500 Gemälde und 4500 Grafiken. Der neue Audioguide zur Nazi-Vergangenheit von Kunst ist das erste Ergebnis der Forschungen und sei – so die Aussage von Museumsdirektorin Christiane Lange – weltweit der erste seiner Art.

1998 verabschiedeten 44 Staaten, darunter Deutschland, die sogenannte Washingtoner Erklärung. Darin verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten, Kunstwerke, die während der NS-Zeit beschlagnahmt wurden, in ihren Beständen ausfindig zu machen, den rechtmäßigen Eigentümer zu finden und faire Lösungen zu finden. Galerien und Museen, Kunsthandel und freie Forscher befassten sich mit der meist komplizierten Rechtsfrage.

Seit 1998 hat das Museum sieben Werke an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben

Die Staatsgalerie Stuttgart hat seit 1998 sieben Werke an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben. Doch erst 2012 drängte sich das bis dahin häufig verdrängte Thema mit einem Paukenschlag in die Öffentlichkeit: Im Haus des Münchner Kunsthändlers Cornelius Gurlitt wurden 590 Werke vermuteter „Raubkunst“ gefunden. Meist waren es jüdische Opfer; der Bestand in der Staatsgalerie Stuttgart zeigt aber auch, dass Kommunisten und Freimaurer unter den Opfern geraubter Kunstwerke waren. Auch die Nazi-Regierung – allen voran Hitler und Göring – bereicherten sich mit Raubkunst.

Die Erbenfamilie des Sammler-Ehepaars Rosi und Ludwig Fischer stellte im Jahre 2000, Kirchners Ölgemälde „Ins Meer Schreitende“ betreffend, einen Restitutionsantrag an die Staatsgalerie. Der aber wurde nach gründlicher Prüfung zurückgewiesen. „Durch die Provenienzforschung konnten wir nachweisen, dass das Werk von seinen Besitzern vor 1933 verkauft wurde“, sagt Anja Heuß.

Ernst Ludwig Kirchner, von den Nazis seiner Lebensäußerungen beraubt, nahm sich 1938 das Leben. Seine Bildwelten erreichen in den 1980er Jahren in Europa und Nordamerika noch einmal höchste Anerkennung.