Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist auf Staatsbesuch in Deutschland. Foto: AFP

Beim Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Berlin werden die inhaftierten Journalisten in der Türkei zum zentralen Thema – und die Wiederannährung tritt in den Hintergrund.

Berlin - Es ist ein chaotischer Tag gewesen in Berlin – verkehrstechnisch wie politisch. Der Regierungsbezirk und das Hotel Adlon, wo der Staatsgast Recep Tayyip Erdogan nächtigt, waren weiträumig abgesperrt. Die ausweichenden Autofahrer erzeugten lange Staus. Und die aus vielen Bundesländern hinzugezogenen Bereitschaftspolizisten wussten oft nicht so recht, wer in den Hochsicherheitsbereich vorgelassen werden durfte. Verzweifelt versuchte etwa die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, von einem Termin im Paul-Löbe-Haus des Bundestags zum nächsten Treffen zu gelangen.

Die politischen Turbulenzen standen dem Verkehrschaos nicht nach. Dachte man zuvor noch, das abendliche Staatsbankett könnte wegen möglicher Proteste am ehesten brisant werden, wurden die Journalisten schnell eines Besseren belehrt. Angemeldet für die nach dem Treffen mit Kanzlerin Angela Merkel angesetzte Pressekonferenz war nämlich Can Dündar.

Can Dündar sagt kurz vor der Pressekonferenz ab

Allein die mögliche Anwesenheit des früheren Chefredakteurs der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“, der in der Türkei zu knapp sechs Jahren Haft verurteilt wurde, im deutschen Exil lebt und Erdogans Präsidentschaft eine „islamische Diktatur“ nennt, genügte, um die Pressekonferenzteilnahme des Türken infrage zu stellen. „Er ist akkreditiert“, hieß es zum Fall Dündar im Kanzleramt, „aber wir wissen natürlich nicht, ob er auch kommt.“

Warum sollte er nicht? Im Hintergrund liefen hektische Gespräche. Kurz vor Beginn sagte Dündar ab. Ihm sei, so schrieb er auf Twitter, „klar geworden, dass meine Teilnahme an der Pressekonferenz eine diplomatische Krise auslösen“ würde. Wichtiger noch sei, dass er Erdogan keine Ausrede liefern wolle, kritischen Fragen der deutschen Kollegen zu entgehen: „Wichtig ist, dass die Fragen gestellt werden, nicht, wer sie stellt.“

Die Nazi-Vorwürfe spielen keine Rolle mehr

So rückte bei aller Beteuerung einer deutsch-türkischen Wiederannäherung gleich zu Beginn von Erdogans Staatsbesuch das Thema Pressefreiheit ins Zentrum. Direkt vor dem Berliner Hauptbahnhof in Sichtweite des Kanzleramts, beklagte die Organisation Reporter ohne Grenzen, dass die türkische Regierung seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 rund 150 Redaktionen geschlossen und mehr als 100 Journalisten inhaftiert hat.

In der Pressekonferenz berichtete Merkel zwar, dass auch über „tiefgreifende Differenzen“ gesprochen wurde, die „niemandem verborgen geblieben“ seien. Erdogans Nazivorwürfe, vor allem aber die Verhaftungen deutscher Staatsangehöriger hatten die Beziehungen abkühlen lassen. Sie betonte aber auch ihr „strategisches Interesse an guten Beziehungen“ und nannte den Antiterrorkampf, die Migrationspolitik und die Befriedung Syriens als gemeinsame Anliegen.

Fortschritte im Syrien-Konflikt

So soll es noch im Oktober einen Vierergipfel mit ihr, Erdogan, Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron und Russlands Staatschef Wladimir Putin zum Bürgerkrieg geben. Zugleich wird die Kooperation mit der ökonomisch angeschlagenen Türkei ausgebaut – so fliegt etwa Minister Peter Altmaier Ende Oktober mit einer großen Wirtschaftsdelegation nach Ankara.

Erdogan gab sich milde wie lange nicht. Er zeigte sich „dankbar für die Verantwortung“ Deutschlands in der Flüchtlingskrise und ermunterte die 3,5 Millionen türkischstämmigen Bewohner der Bundesrepublik (darunter 1,48 Millionen türkische Staatsangehörige), „dass sie sich integrieren“ – von Aufwiegelung keine Spur.

Jeweils zwei Journalisten dürfen Fragen stellen

Tacheles wurde geredet, als die Fragerunde begann. Vier Journalisten bekamen die Gelegenheit. Die beiden Kollegen aus Erdogans Tross wollten wissen, ob Berlin Ankaras Wunsch erfüllen werde, die angeblich hinter dem Putschversuch steckende Gülen-Bewegung genauso als Terrororganisation einzustufen wie die kurdische PKK. Die türkische Seite hatte der deutschen zuvor eine Liste mit 69 angeblich Verdächtigen übergeben. Die Kanzlerin blockte ab, weil die Informationen in deutschen Sicherheitskreisen anders bewertet werden: „Das reicht noch nicht aus.“

Die beiden von Regierungssprecher Steffen Seibert aufgerufenen Journalisten fragten nach den inhaftierten Deutschen und ihren Kollegen im Knast. „Die Gerichtsbarkeit in der Türkei ist unabhängig“, antwortete Erdogan ungerührt. „Es gibt Urteile, die mir nicht gefallen, aber ich muss mich daran halten.“ Für den autokratisch regierenden Präsidenten ist Can Dündar sogar „ein Agent, der Staatsgeheimnisse veröffentlicht hat“. Erdogan bestätigte indirekt Berichte, dass gerade ein Auslieferungsersuchen im Auswärtigen Amt eingegangen sei. Im umgekehrten Fall „würde ich ihn rausgeben“. Die Kanzlerin berichtete, die Kontroversen über Dündar seien „kein Geheimnis“. Sein Fall und andere sollen an diesem Samstag zur Sprache kommen, wenn Erdogan zu einem Frühstück erneut im Kanzleramt weilt.

Türkische Verhältnisse: Ein Chefredakteur wird abgeführt

Zwischendurch kam es zu einem Zwischenfall, der Erdogan sogar ein Schmunzeln entlockte und viel Empörung auslöste. Als Adil Yigit, der Chefredakteur des Netzportals „Avrupa Postasi“, bekleidet mit einem T-Shirt, das in türkischer Sprache „Pressefreiheit für Journalisten“ forderte, zu fotografieren begann, wurde er von Sicherheitskräften vorübergehend abgeführt. Zwar sind Proteste bei Pressekonferenzen im Kanzleramt generell nicht gestattet, doch nannte der Deutsche Journalistenverband das Vorgehen gegen Yigit „mindestens instinktlos“, da es nur um ein T-Shirt gegangen sei.

Am Abend war es dann an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die Wogen wieder zu glätten. Auch er erwähnte in seiner Rede beim Staatsbankett im Schloss Bellevue die politischen Häftlinge. „Ich hoffe, Herr Präsident, Sie verstehen, dass wir darüber nicht zur Tagesordnung übergehen“, sagte Steinmeier. „Eigentlich hätte ich an diesem Abend nicht über so etwas reden wollen“, konterte Erdogan. Aber in Deutschland liefen „Hunderte, Tausende“ von Terroristen frei herum. „Sollen wir darüber etwa nicht sprechen? Sollen wir dazu nichts sagen?“ Dennoch ist dem Staatsoberhaupt sehr an Ausgleich und Dialog gelegen: „Ich freue mich, dass unsere Länder nach zu vielen groben Tönen das Gespräch miteinander wieder suchen.“ Deutschland und die Türkei blieben so oder so wichtig füreinander: „Im Wissen darum sollten wir unsere künftige Beziehung gestalten.“