Steigt der Bund aus der ÖPNV-Förderung aus, sind Projekt wie der Stadtbahntunnel, der in der Innenstadt gegraben wird, nicht mehr bezahlbar Foto: Leif Piechowski

Der Anteil des ÖPNV am Verkehr steigt. Doch es fehlt bald an Geld, den Bedarf zu decken, weil die Bundesregierung über ihre künftige Zuschusspraxis schweigt. Dem könnte der S-Bahn-Ausbau nach Neuhausen/Filder zum Opfer fallen, heißt es bei den Stuttgarter Straßenbahnen.

Stuttgart/Berlin - Johannes Hornemann und Dzafer Alic befinden sich praktisch täglich auf Dienstreise. Sie sind Busfahrer bei den Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) und daher von Berufs wegen ständig unterwegs. An diesem Dienstag starten sie zu einer besonderen Dienstreise, der Pressetext der SSB spricht gar von „einer Mission“.

Hornemann und Alic steuern zwei der gelben SSB-Linienbusse nach Berlin, um dort – mit dem Segen ihrer Chefs – zu demonstrieren. 62 Busfahrer aus ganz Deutschland, so der Plan, parken am Mittwoch ihre Fahrzeuge vor dem Berliner Reichstag. Dem Bundestagsvizepräsidenten Johannes Singhammer und mehreren Abgeordneten soll eine Resolution zur Finanzierung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) übergeben werden. Tenor: Es ist fünf Minuten vor zwölf.

Eigentlich ist es fünf Jahre vor zwölf. Nahverkehrsunternehmen wie die SSB erhalten ab Ende 2019 kein Geld des Bundes mehr für den Erhalt- und Ausbau des Bus- und Stadtbahnnetzes. Dann streicht der Bund seine Zuschüsse für große ÖPNV-Projekte, wie sie das sogenannte Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) regelt. „Dabei ist der Erhaltungs-, Unterhaltungs- und Erneuerungsbedarf enorm“, sagt SSB-Vorstandssprecher Reinhold Bauer. Die Infrastruktur in Deutschland sei vielerorts marode. Bei 25 Kilometer Tunnel- und über 130 Kilometer Stadtbahnstrecke bestehe auch in Stuttgart Handlungsbedarf. Manche Gleisanlagen seien bis zu 50 Jahre alt. Zu zeitweisen Streckensperrungen wie jüngst auf den Fildern entlang der U 3 in Möhringen sei man künftig wohl häufiger gezwungen.

Dass die Verkehrsunternehmer heute schon – fünf Jahre vor Ende der Förderung – Alarm schlagen, liegt daran, dass Bauvorhaben im ÖPNV einen langen Planungsvorlauf haben. Die Planungskosten – meist ein hoher sechsstelliger Betrag – müssen die Verkehrsträger dabei komplett selbst bestreiten. „Mit jedem Jahr, den dieser Zeitpunkt näher rückt, wird das Planen schwerer, weil die Finanzierung ungeklärt ist“, sagt Bauers Vorstandskollege Wolfgang Arnold. Dabei wächst der Bedarf: Laut einer Studie steige der Anteil des ÖPNV am Verkehrsaufkommen in der Stuttgarter Innenstadt bis zum Jahr 2030 um ein Fünftel.

Dass bei Planung und Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs viele Stellen mitreden, macht die Sache nicht einfacher. Die Baukosten etwa einer neuen Bus- oder Straßenbahnlinie tragen der Bund, teilweise das jeweilige Bundesland, teilweise die jeweilige Stadt oder Gemeinde. Der Schlüssel, wie diese Kosten verteilt werden, ist von Bundesland zu Bundesland verschieden und hängt überdies von der Investitionssumme ab. Alles was über 50 Millionen Euro kostet, ist im Rahmen des GVFG förderfähig. Das Land Baden-Württemberg verfügt für kleinere Vorhaben noch über eine Art Landes-GVFG. Dieses Geld kommt jedoch ebenfalls vom Bund. Klingt so kompliziert, wie es ist.

Einfacher zu fassen sind die Probleme, die Verkehrsunternehmen wie die SSB in den nächsten Jahren bewältigen müssen. Reinhold Bauer nennt am Montag einige Zahlen.

Bis 2017 erhalten die SSB 20 neue Stadtbahnwagen, die zweite Tranche von 40 Zügen. Kosten: insgesamt 160 Millionen Euro, die die SSB alleine schultern müssen. Laut Bauer verdoppelt sich dadurch der Schuldenstand der von der Stadt Stuttgart getragenen Aktiengesellschaft. Der gesetzlich vorgeschriebene, behindertengerechte Umbau der Bushaltestellen verschlingt bis 2022 rund drei Millionen Euro im Jahr. Bis 2020 sind jährlich 15 bis 20 Busse zu ersetzen, von denen einer bis zu 300 000 Euro kostet. Die Sanierung von Büros und Werkstätten und der Bau von Abstellanlagen für 60 Millionen Euro sind auf unbestimmte Zeit verschoben.

Die Liste ließe sich beliebig verlängern.

Der Stuttgarter ÖPNV sei „sauber, pünktlich, freundlich und preiswert“, sagt Bauer. Wenn sich in Berlin aber nichts bewegt, „geraten wir bei der Qualität in eine Abwärtsspirale“, ergänzt Arnold und benennt Folgen. So könnten im Spätverkehr längere Takte eingeführt und die Züge und Busse nur in längeren Abständen gereinigt werden.

Der Ausbau der Stadtbahnlinien U 6 und U 12 ist laut Bauer finanziert. Auswirken könnte sich die Misere aber auf die Verlängerung der S-Bahn nach Neuhausen/Filder. Die SSB haben Planung und Bau übernommen. Kosten: 92 Millionen Euro. Beendet die Bundesregierung ihre Kostenbeteiligung, „steht der Ausbau infrage“, so Bauer. Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD erhält dazu nur eine wage Absichtserklärung. Konkreter wird am Montag auch das Bundesverkehrsministerium nicht. „Fest steht, dass der Bund auch in Zukunft dafür sorgen wird, dass sich die Menschen auf eine gute Anbindung durch den Nahverkehr verlassen können“, sagt eine Sprecherin von Minister Alexander Dobrindt.

Sparpotenzial innerhalb der SSB sehen die beiden Vorstände wenig. „Große Klöpse sind nicht mehr zu erwarten“, so Arnold. Bauer verweist auf das „große Restrukturierungsprogramm in den Jahren 1992 bis 2010“. Beispiel: Den Busfahrern wurde das Gehalt um bis zu 20 Prozent gekürzt. Wer 2003 noch 2400 Euro brutto im Monat verdient habe, erhielte heute, lässt man die seitherigen Tariferhöhungen unberücksichtigt, 1900 Euro.