Vermisste Kinder: Inga aus Stendal (oben links) – vermisst seit 2. Mai 2015. Manuel aus Berlin (oben rechts) – vermisst seit 24. Juli 1993. Seike (unten links) aus Drelsdorf – vermisst seit 5. August 1993. Hilal aus Hamburg (unten rechts) – vermisst seit 27. Januar 1999. Foto: /dpa

In den Niederlanden hat eine siebenköpfige Gruppe jahrelang im Keller eines abgelegen Bauernhofes gehaust. In dem Verlies im Ort Ruinerwold warteten sie auf den Weltuntergang. Ein extremer Fall. Auch in Deutschland werden hunderte Kinder und Jugendliche vermisst.

Ruinerwold/Stuttgart - Nach der Entdeckung einer seit Jahren isoliert lebenden Familie im Osten der Niederlande laufen die Ermittlungen der Polizei auf Hochtouren. Eine Sondergruppe von 25 Beamten untersuche den Fall, teilte die Polizei in der Provinz Drenthe am Mittwochmorgen mit. Viele Fragen seien offen.

Auf einem abgelegenen Bauernhof im Dorf Ruinerwold hatten Beamte eine Familie entdeckt, die dort seit 2010 in einem isolierten Raum gehaust haben soll.

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58-jähriger Österreicher festgenommen

Dies betreffe fünf jetzt erwachsene Kinder und doch auch deren Vater, teilte die Polizei mit. Das hätten die Personen selbst ausgesagt. Zuvor war unklar gewesen, ob auch der Vater der Familie in dem isolierten Raum gelebt hat.

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Festgenommen wurde ein 58 Jahre alter Österreicher. Er war nach Angaben der Polizei Mieter des Bauernhofes und soll dort regelmäßig Reparaturen ausgeführt haben, aber dort nicht gewohnt haben. Die Familie war dem Einwohnermeldeamt nicht bekannt.

In welcher Beziehung der Österreicher zu der Familie stand, ist weiter unklar. Die Polizei konnte auch noch nicht sagen, weshalb die Familie auf dem Hof lebte. Niederländische Medien berichten, dass sie auf das „Ende der Zeiten“ gewartet hätten.

Gezwungen oder freiwillig?

Einer der Söhne, ein 25-jähriger Mann, hatte sich am Montag in einer Dorfkneipe gemeldet und um Hilfe gebeten. Daraufhin war die Polizei zu dem Hof gefahren. „Da trafen wir sechs Menschen an in einem abschließbaren kleinen Raum in der Wohnung, es war kein Keller», präzisierte die Polizei. „Es ist undeutlich, ob sie dort freiwillig waren.“ Zuvor war berichtet worden, dass die Familie in einem Kellerraum gelebt habe.

Vermisstendatei von BKA und LKA

Immer wieder werden Kinder von Angehörigen oder Fremden mitunter jahrelang eingesperrt und missbraucht. Nur die aufsehenerregendsten Fälle werden publik. In Deutschland werden vermisste Kinder und Jugendliche in der Vermisstenstatistik des Bundeskriminalamtes (BKA) und der Kriminalämter der Länder (LKA) erfasst.

Mehr als 100 000 Kinder und Jugendliche werden nach Angaben der Initiative Vermisste Kinder in Hamburg jedes Jahr in Deutschland als vermisst gemeldet. Die Hälfte der Fälle klärt sich laut BKA innerhalb der ersten Woche auf, nach einem Monat sind 80 Prozent gelöst. Nur etwa drei Prozent der Vermissten sind nach einem Jahr noch verschwunden.

Das BKA hat in seiner Vermisstendatei („Vermisste/unbekannte Tote“ – Vermi/Utot) insgesamt rund 12 000 aktuelle Vermisstenfällegespeichert – darunter circa 10 000 Fälle von Betroffenen in Deutschland (Stand: 5. April 2019). „In dieser Zahl sind sowohl Fälle enthalten, die sich innerhalb weniger Tage aufklären, als auch Vermisste, die bis zu 30 Jahren verschwunden sind“, heißt es beim BKA.

In dieser Datei sind derzeit 1995 ungeklärte Fälle zu vermissten Kindern bis zum 13. Lebensjahr (Stand: 5. April 2019) erfasst. „Dramatische Fälle, die unaufgeklärt bleiben, bewegen sich im Jahresmittel im niedrigen ein- bis zweistelligen Bereich“, erklärt ein Mitarbeiter der Initiative Vermisste Kinder. Die allermeisten Jugendlichen tauchten binnen kürzester Zeit wieder auf. Doch in einer Vielzahl von Fällen tappe die Polizei im Dunkeln.

Täglich 200 bis 300 neue Fahndungen

Täglich werden in der Fahndungsdatei des BKA in Wiesbaden 200 bis 300 Fahndungen neu erfasst oder gelöscht. Bei Nichtaufklärung bleibt die Fahndung 30 Jahre bestehen. Die Polizei ist europaweit vernetzt – Europol, BKA und LKAs gehen jedem Hinweis nach.

In der BKA-Vermisstenstelle wird jedes Schicksal detailliert erfasst. Wenn sich die Spuren im Nichts verlieren, müssen die Ermittler davon ausgehen, dass der oder die Minderjährige verunglückt oder einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist.

Manchmal findet man die Leiche. Dann können die Angehörigen zumindest ihr Familienmitglied beerdigen und Abschied nehmen. Einige Vermisste tauchen aber nie wieder auf, weil sie in einem Baggersee ertrunken oder in einem Steinbruch verschüttet worden sind. Der Familie bleibt dann nichts außer der Erinnerung.

Wie eine Vermissten-Fahndung abläuft

In der Polizeidienstvorschrift (PDV) 389 „Vermisste, unbekannte Tote, unbekannte hilflose Personen“ ist genau geregelt, wie bei Vermisstenmeldungen vorzugehen ist. Minderjährige dürfen demnach ihren Aufenthaltsort nicht selbst bestimmen. Bei ihnen wird grundsätzlich von einer Gefahr für Leib und Leben ausgegangen. Wenn erforderlich, läuft eine Großfahndung der Polizeibehörden an.

Reicht das Personal einer Dienststelle nicht aus, wird die Hilfe der Bereitschafts- und Bundespolizei angefordert. Hunderte Beamte durchkämmen dann die Gegend, in der ein Minderjähriger verloren gegangen ist oder vermutet wird.

Mit modernsten kriminologischen Methoden wird heute nach Vermissten gefahndet. Enorm belastend für viele Familien ist das sogenannte Age processing, ein aus den USA stammendes Fahndungsverfahren: Fotos von dauerhaft vermissten Kindern werden dabei am Computer an das tatsächliche Alter der Verschwundenen angepasst und so ein aktualisiertes Fahndungsfoto erstellt.

Die Eltern sehen ihr vermisstes Kind auf dem Bildschirm älter werden. Sollte das verschwundene Kind nach Jahren tatsächlich noch leben, hätte sich sein Aussehen frappierend verändert.