Bei Massengräbern – wie hier auf dem Balkan – helfen neue Methoden, Zusammenhänge aufzuklären und unbekannte Tote zu identifizieren. Foto: dpa

Auch die DNA von nicht so eng verwandten Personen kann zur Identifikation von Leichen und vermissten Personen herangezogen werden. Dabei helfen winzige Veränderungen in der Erbsubstanz, die für Familien charakteristisch sind.

Den Haag - Für viele Menschen ist der Krieg nicht beendet, wenn die Waffen schweigen. Die Internationale Kommission für vermisste Personen (ICMP) kennt viele Schicksale von Familien, die nicht wissen, ob ihre Angehörigen noch leben oder wo sie beerdigt wurden. Der US-Präsident Bill Clinton hat die Organisation vor 21 Jahren gegründet. Seitdem identifiziert die ICMP die anonymen Leichen, die Kriege oder Unrechtsstaaten hinterlassen haben, sowie die Opfer von Naturkatastrophen, Terroranschlägen und Flüchtlingsströmen. Jetzt hat die Kommission ihr Hauptquartier in Den Haag eröffnet.

Kaum eine andere politische Organisation profitiert so stark vom wissenschaftlichen Fortschritt. Das Herzstück der neuen Räume bildet das weltweit modernste Labor für DNA-Analytik. Dort können die Wissenschaftler selbst aus stark verwesten Leichenüberresten noch die nötigen Erbinformationen sammeln, die sie dann mit DNA-Proben der Angehörigen vergleichen.

Für ihre Arbeit werten die Forensiker der ICMP mehr als 1400 Stellen des menschlichen Erbguts aus. „Dadurch können wir erstmals Menschen mit großer Sicherheit selbst dann identifizieren, wenn die Vergleichs-DNA nicht von einem direkten Familienmitglied, sondern vom Cousin ersten Grades oder vom Onkel stammt“, erklärt Keith Elliot. Das sei ein „Riesenschritt nach vorn“, sagt der Projektleiter bei Qiagen, einem Spezialisten für genetische Diagnostik, der das Labor kostenlos mit den nötigen Geräten ausgestattet hat.

DNA entfernterer Verwandter

Die Ausweitung der Analytik auf entferntere Verwandte ist für den Alltag bei der ICMP enorm wichtig. Die Forensiker benötigen eine DNA-Probe als Vergleich, aber die Eltern der Vermissten sind häufig bereits verstorben, die Geschwister nicht selten ebenfalls Opfer von Diktatur oder Krieg geworden. „Wir haben damit ein neues Niveau erreicht“, sagt ICM-Generaldirektorin Kathryne Bomberger.

Die neue Technik hat die ICMP gemeinsam mit Qiagen und Forensik-Experten aus Spanien und Schweden entwickelt. Die Wissenschaftler untersuchen sogenannte Punktmutationen, das sind sehr kleine Veränderungen der DNA, die in einer Familie aber über Generationen weitergegeben werden. Bei einer Punktmutation (Single Nucleotide Polymorphism, SNP) weicht nur ein einziger Baustein in einem längeren DNA-Fragment von der üblichen Reihenfolge ab. Etwa 90 Prozent aller genetischen Varianten des menschlichen Erbguts sind das Ergebnis solcher einfachen Veränderungen. SNP sind bekannt geworden, weil daraus häufig Krankheiten entstehen.

Doch die Mutationen, für die sich das ICMP interessiert, passieren nicht in den Genen, sondern liegen im nicht codierenden Bereich des Erbguts. Es sind ganz natürliche Abweichungen, die bei den meisten Menschen ohne Auswirkungen bleiben. Weil sie ungefährlich sind, konnten sich viele SNP in der Bevölkerung weit verbreiten. Die Forscher suchten ganz gezielt nach häufigen SNP, die beispielsweise bei einem Viertel oder einem Drittel der Menschheit vorkommen. Doch der einzelne Mensch trägt nicht jede der 1400 untersuchten SNP in seinem Erbgut, sondern nur ein paar Hundert davon. Auf diesem Weg lassen sich mit Hilfe der Bioinformatik genetische Profile ermitteln, die für Familien charakteristisch sind.

10 000 Fälle pro Jahr

Diesen Ansatz der Forscher haben auch die Entwickler der Analysegeräte aufgenommen. Gentests sind längst eine Aufgabe von Robotern geworden, die das Untersuchungsmaterial mit hoher Geschwindigkeit bearbeiten. Die Apparate der ICMP untersuchen die 1400 SNP in einem einzigen Arbeitsgang und geben die Ergebnisse an die Datenbank weiter. Die Analyse dauert einen Nachmittag, die Forensiker wollen mit ihrem neuen Labor 10 000 Fälle pro Jahr aufklären.

„Sämtliche Abläufe im Labor sind für diese Aufgabe optimiert worden“, erklärt Elliot. Trotzdem sind jährlich 10 000 Identifizierungen viel zu wenig. „Die Zahl der Vermissten ist schwindelerregend hoch“, sagt Bomberger. Es sei längst überfällig, dass die betroffenen Länder das Thema vermisster Personen koordiniert und systematisch angehen. „Sie müssen die Rechte der Familien der Vermissten respektieren“, ergänzt die Generaldirektorin. Der syrische Flüchtling Muhanad Abulhusn ist eines der Opfer, das auf die Hilfe der ICMP hofft. Der gelernte Ingenieur saß zweimal in berüchtigten Gefängnissen, weil er sich für eine humanitäre Organisation engagiert hatte. Viele seiner Mithäftlinge seien getötet worden oder verschwunden. „Es ist schrecklich, wenn man der letzte ist, der den Angehörigen lebend gesehen hat, aber den Familien nicht sagen kann, was passiert ist“, sagt der Syrer.

Gräber in Syrien

Wenn einmal Frieden in Syrien herrscht, soll die ICMP die Gräber untersuchen. „Wir wollen das Schicksal der Vermissten klären und diejenigen, die für Kriegsverbrechen verantwortlich sind, vor Gericht bringen“, erklärt Muhanad Abulhusn. Die ICMP kämpft dagegen, dass die Opfer eines Regimes vergessen werden, nur weil sie in anonymen Massengräbern verschwunden sind. Die Kommission hat weltweit Beweismittel bereits für 30 Gerichtsverfahren geliefert.

Die Qualität des ICMP-Labors zeigt sich nicht nur in der Zahl der untersuchten genetischen Marker. Die Knochen, die dort angekommen, sind oft in einem sehr schlechten Zustand. Die Hitze, hohe Luftfeuchtigkeit und der Verwesungsprozess haben den Skelettresten in den flachen Gräbern oft stark zugesetzt. Das ist ein Grund, warum die Forscher sich lieber auf viele kurze SNP konzentrieren, statt lange DNA-Fragmente zu verwenden, wie sie für einen typischen Vaterschaftstest genutzt werden. Zudem ist die geringe Menge Erbgut, die unter diesen Bedingungen gewonnen werden kann, noch oft durch das Erbgut der Mikroben aus dem Boden verunreinigt. Trotzdem können die Forscher auch 40 oder 50 Jahre nach dem Tod der Opfer noch genügend Informationen sammeln.

Mittlerweile scheitern die meisten Projekte bei der Suche nach Vermissten nicht mehr an wissenschaftlichen Problemen. Oft fehlt die Mitwirkung der betroffenen Länder. Manchmal mangelt es auch einfach am Geld. Die ICMP möchte beispielsweise die etwa 8000 Menschen identifizieren, die während der Flucht über das Mittelmeer ertrunken sind. Die italienischen Behörden haben bereits Hilfe angefragt, doch bisher hat sich kein Geldgeber gefunden.

Weltweite Aufklärung

Analysen
Die ICMP hilft mit DNA-Analysen bei der Identifizierung der Opfer von Naturkatastrophen wie dem Tsunami 2004 auf den Malediven und in Thailand, beim Taifun auf den Philippinen 2008 und beim Erdbeben 2010 auf Haiti. Genuntersuchungen werden auch nach Terroranschlägen in Kenia und den USA durchgeführt sowie im Zuge von gewalttätigen Auseinandersetzungen oder Diktaturen in folgenden Ländern: Albanien und Balkan, Brasilien, Chile, El Salvador, Griechenland, Irak, Kolumbien, Kuwait, Libanon, Libyen, Mexiko, Norwegen, Südafrika, Syrien, Türkei, Ukraine, Vietnam und Zypern

Hilfe
Angehörige können über die Internetseiten der ICMP www.icmp.int vermisste Personen melden. Sie müssen dann DNA-Proben abgeben. Zeugen können die Lage von mutmaßlichen Massengräbern melden, damit diese Orte des Unrechts nicht vergessen werden. Regierungen bitten bei der ICMP um Unterstützung, wenn sie geschichtliche Ereignisse in ihrem Land aufklären wollen.