Noah Lyles beherrscht die großen Posen perfekt. Foto: AP/File

US-Supersprinter Noah Lyles hat die Legende in einem Punkt schon überholt – musikalisch.

Stuttgart - Nach Blut, Schweiß und Tränen auf dem Weg zu Siegen und Medaillen tauschen die weltbesten Leichtathleten an diesem Samstagabend in Monaco Trikots mit Abendkleid und Smoking und tauchen in eine Glamourwelt ein, in der die Besten der Besten die Trophäen als Welt-Leichtathleten des Jahres aus den Händen von Prinz Albert von Monaco erhalten. Auf dem roten Teppich dabei: der neue Sprintstern Noah Lyles.

Der Amerikaner steht für schnelle Zeiten, eine große Klappe und einen ordentlichen Unterhaltungswert. Der 22-jährige US-Boy war Doppel-Weltmeister über 200 Meter und mit der 4 x 100-Meter-Staffel, überdies beeindruckte er die Fachwelt als Diamond-League-Sieger über 100 und 200 Meter. Ist der schnellste Sprinter 2019 auf den Spuren von Usain Bolt?

Die Haare stehen zu Berge

42 Grad zeigt das Thermometer unter den Palmen am Persischen Golf einen Tag nach seinem größten Erfolg bei der WM in Doha an. Noah Lyles wirkt müde. Seine ab und zu gefärbten Haare stehen noch immer zu Berge. Bei seiner WM-Premiere in Doha hatte Noah Lyles als Weltmeister über 200 Meter in 19,83 Sekunden seinen ersten großen Titel gewonnen. Lyles redet danach im Gespräch mit unserer Zeitung ungewohnt leise. Eigentlich ist er mit seinem Auftreten, seinen Posen und dem Sockentick ein Junger Wilder, ein Großmaul.2019 war das Jahr des 22-Jährigen aus Gainesville (Florida). Shanghai, Lausanne und Doha sind seine magischen Orte. Mit 9,86 und 19,50 Sekunden stellte er über 100 und 200 Meter neue Bestleistungen auf. So schnell war in diesem Alter noch nie ein Sprinter, auch Usain Bolt nicht. Lyles’ Entwicklung ist nicht minder atemberaubend wie die des jamaikanischen Übersprinters.

Mit 15 Jahren rannte Lyles bereits 21,82 Sekunden, mit 16 erstmals unter elf. In Rio verbesserte er mit 20,09 Sekunden den 31 Jahre alten Highschool-Rekord, als Zwanzigjähriger lief er mit 9,95 Sekunden und 19,90 erstmals unter 10 und 20 Sekunden. Nach zwei Junioren-WM-Titeln folgte im Jahr 2018 der Durchbruch im Seniorenbereich. Durch seine Siege in der Diamond-League verbuchte er seine beiden ersten großen Zahltage und räumte jeweils 50 000 US-Dollar ab.

Der Wunderknabe

Wunderknabe, Supertalent, Showman – rasch flogen Lyles alle Superlativen zu. Die Sehnsucht nach einem neuen Superstar in der Leichtathletik ist nach dem Rücktritt von Megastar Usain Bolt riesengroß. Kann Lyles diese Hoffnung erfüllen? „Uns verbindet nur, dass wir schnelle Rennen gewinnen“, antwortet Lyles auf den Bolt-Vergleich, „jeder der schnell rennt, wird mit Bolt verglichen, das ist doch Unsinn.“ Er habe kein Vorbild, höchstens seine Mutter. Er habe auch nicht die Zeiten von Bolt vor Augen. „Ich bin noch nicht am Limit“, deutet er aber immerhin sein Potenzial an. Bolt ist seine Weltrekorde in Berlin (9,58 und 19,19 Sekunden) mit 23 Jahren gelaufen. Lyles fehlen bis dahin noch 28 Hundertstel (über 100 Meter) und 31 Hundertstel (100 Meter) – das sind im Sprint Welten.Lyles ist eigentlich ein klassischer 200 Meter-Sprinter: Aus der Kurve kommend, zündet er in der Regel auf der Zielgeraden seinen Turbo und fliegt an den Konkurrenten mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 37 Kilometern pro Stunde vorbei. Was die Blitzpose für Bolt war, sind für Lyles seine Choreografien hinter der Ziellinie. Zwischen den Rennen bemalt er seine Schuhe, sucht für jedes Rennen neue Socken aus: mal knallrote, mal welche mit Stars & Stripes, dann arbeitet er mit seinem Sponsor an einem T-Shirt für den Boston-Marathon. Ja, Noah Lyles ist nicht nur schnell, er ist auch kreativ. Und er hat weitere Talente. Bei Weltklasse Zürich Ende August trat Lyles auf der Bühne in der Mitte des Letzigrund-Stadions auf: Der herausragende Sprinter des Jahres rappte vor 25 000 Zuschauern zusammen mit Stabhochspringerin Sandi Morris (USA) und der Band Baba Shrimps den Song „Souvenir“. Zumindest musikalisch ist er an Bolt vorbei. „Ich bin mehr als Sport“, sagt Lyles wohl zu Recht.

Als gesundheitliche Probleme

Als Kind hatte Lyles gesundheitliche Probleme. Er kämpfte mit Hustenattacken, hatte Asthma und dadurch auch Probleme bei der Ernährung. Noah musste teilweise von der Schule zu Hause bleiben, wo ihn seine Mutter unterrichtete – Sport war damals noch kein Thema. Der Sprint hat ihn geformt, Möglichkeiten aufgetan. „Ich bin nicht Noah, ich bin Winboy“ sagte er zu seiner Mutter.

Gegenüber der „NZZ“ hat Lyles einen Traum verraten. Seinen Weltrekordlauf habe er schon geträumt und könne sich an Details erinnern. „Ich lief auf einer blauen Bahn auf gleicher Höhe mit den Konkurrenten – und dann einfach davon“, berichtet er. Die Zeit auf der Uhr: 9,41 Sekunden. Ist Noah Lyles nur ein Träumer?