Autochefs beim Autogipfel im Kanzleramt. Von links: Matthias Müller (VW), Harald Krüger (BMW) und Dieter Zetsche (Daimler) Foto: AFP

Alle reden über den Diesel – allerdings auf unterschiedlichen Ebenen, findet Jan Sellner. Ein Phänomen, das auch bei anderen Themen festzustellen ist. Woran liegt das?

Stuttgart - Wir alle – oder die meisten von uns – sprechen Deutsch. Das heißt allerdings nicht, dass wir uns auch verstehen. Vielmehr fällt auf, dass wir es oft nicht tun – und zwar häufig dann, wenn wir uns in Diskussionen gegenüberstehen. Der Grund dafür ist: Wir reden erstaunlich oft aneinander vorbei. Damit sind nicht Missverständnisse gemeint oder Irrtümer, die sich aus Unachtsamkeit erklären. Die Form der Nicht-Kommunikation, um die es hier geht, hat andere Ursachen. Sie rührt daher, dass sich verschiedene Menschen mit verschiedenen Prägungen und Berufen auf verschiedenen Ebenen unterhalten. Das ist übrigens kein akademisches Problem, sondern ein sehr praktisches. Unser Alltag, unser Leben sind davon geprägt.

Die aktuelle „Dieselkrise“ oder der „Dieselskandal“ – bei der Wahl der Begriffe gehen die Verständigungsprobleme schon los – ist dafür ein gutes Beispiel. Vertreter der Automobilindustrie argumentieren in der Regel anders als Außenstehende – aus Selbstschutz, vor allem aber aus dem eigenen Selbstverständnis heraus, das global ausgerichtet ist.

Man sieht, wenn Menschen aneinander vorbeireden

Ihre Sprecher stehen auf dem Standpunkt, prinzipiell richtig gehandelt und – abgesehen von VW – die gesetzlichen Vorgaben eingehalten zu haben. Konkret: die für den Prüfstand vorgeschriebenen Abgaswerte. Vom Straßenbetrieb war nicht die Rede. Für diese Lücke ist aus Sicht der Autoindustrie die Politik verantwortlich. Die zugesagte Dieselnachrüstung ist so gesehen ein reines Entgegenkommen . . . Wenn Menschen aneinander vorbeireden, kann man das manchmal sogar sehen. Wer die Bilder vom Autogipfel aus der vergangenen Woche im Kopf hat – auf der einen Seite die Autochefs, auf der anderen die Vertreter der Regierung – dürfte dem zustimmen.

Viele Bürger haben einen anderen Blick auf die Vorgänge rund um den Diesel. Sie gehen davon aus, dass die Ergebnisse des Prüfstands auch im Straßenverkehr gelten. Ein sauberes Auto im Test sollte auch in der Praxis sauber sein. Das legt der gesunde Menschenverstand nahe – zu dem einschränkend stets angemerkt werden muss, was Albert Einstein feststellte: dass er nämlich die Summe aller bis zum 18. Lebensjahr angesammelten Vorurteile ist. So oder so. Das formalistische Denken der Automobilindustrie prallt auf die empörte Haltung der Öffentlichkeit. Die einen führen den Buchstaben des Gesetzes an, die anderen Anstand und Moral. Und da haben die Gesundheitsexperten noch gar nicht mitgeredet und die Juristen und die Journalisten und die vielen anderen Beteiligten, die alle Deutsch, aber nicht dieselbe Sprache sprechen.

Es fehlen Empfänger, Übersetzer und Moderatoren

Das Phänomen der babylonischen Sprachverwirrung innerhalb des eigenen Sprachraums zeigt sich bei vielen Themen. Wenn es um soziale Gerechtigkeit geht zum Beispiel oder um den Wirtschaftsstandort Deutschland oder um Europa. Jeder spricht anders: hier die einnehmende Sprache der Wahlkämpfer, dort die aggressive Polemik der Provokateure. Es gibt die Fachsimpelei der Experten und den Frageton der Laien. Es gibt das Kauderwelsch der Behörden und den Klartext der Stammtische, das Klappern der Verkäufer und das Plappern der Besserwisser. Nicht zu vergessen: der sprichwörtliche Mann auf der Straße, dessen Art zu denken und zu sprechen alle zu kennen glauben, woran große Zweifel bestehen.

Wir leben in einer freien Gesellschaft, deren Mitglieder auf unterschiedlichsten Kanälen auf Sendung sind. Das ist eine Errungenschaft. Woran es allerdings fehlt, sind Empfänger, Übersetzer, Moderatoren. Menschen, die zuhören und Gesprächsfäden knüpfen. Sie sind Teil der Antwort auf die oft gestellte Frage, was das Gemeinwesen zusammenhält.

jan.sellner@stzn.de