Im Dialog mit Rosemarie Trockel: Christiane von Schilling (rechts) lehrt Deutsch vor einer Videoarbeit. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Museen tun sich schwer, ein breiteres Publikum anzusprechen. Das will die Staatsgalerie Stuttgart ändern mit einem spannenden Konzept: Sprachkursen vor der Kunst.

Stuttgart - Würden Kunsthistoriker Max Beckmanns Skulptur „Adam und Eva“ erklären, ginge es vermutlich um Sündenfall und Altes Testament, um Volumen und das Figurative, um Oberflächenbeschaffenheit und Materialität. Wenn Christiane von Schilling dagegen mit Besuchern durch die Staatsgalerie Stuttgart geht, fragt sie ihre Gruppe: Wie mag sich diese winzige Frau fühlen, die der Mann auf seiner Hand trägt? Wie wäre es, selbst eine der beiden Figuren zu sein? So nackt und bloß?

Christiane von Schilling, von Haus aus Bildhauerin, führt besondere Gruppen durchs Museum, Menschen, die oft nur wenige Begriffe zur Hand haben, wenn sie Beckmanns Gemälde „Reise auf dem Fisch“ (1934) beschreiben sollen: Mann, Frau, Fisch, Meer, Reise, gute Gefühle, böse Gefühle. Von Schilling ist eine der Kunstvermittlerinnen der Staatsgalerie Stuttgart, die sich auf Sprachvermittlung spezialisiert haben und versuchen, das Gespräch über Kunst als Deutschunterricht zu nutzen. Wenn zum Beispiel Adjektive trainiert werden sollen, „kommt das durch den Input der Kreativität viel einfacher rüber“, meint von Schilling. Selbst wenn noch keine Sätze möglich seien, sondern nur einzelne Stichwörter „macht es plötzlich klack klack klack, das ist fantastisch“.

Seit 2010 bietet die Staatsgalerie gezielte Sprachführungen an, doch nachdem die Anschubfinanzierung von der Stadt ausgelaufen war, ließ die Nachfrage nach. „Wir können das anbieten, aber nicht finanzieren“, sagt Christiane Lange, die Direktorin der Staatsgalerie. Die Kursgebühr plus Eintritt sei für die meisten Gruppen, etwa Schüler aus Integrationsklassen oder Geflüchtete, nicht aufzubringen. Jetzt ist mit der Klett Gruppe ein Sponsor gefunden worden, der die Kosten übernimmt. Fortan zahlen die Teilnehmer der Sprachführungen zwei Euro inklusive Eintritt.

Gemälde können mit der eigenen Geschichte verknüpft werden

„Wir verstehen uns als offenes Haus für alle“, sagt Susanne Kohlheyer, die in der Staatsgalerie die Sprachvermittlung koordiniert. Sie will mit dem Angeboten „Hemmschwellen abbauen und das Museum auch als alternativen Lernort“ etablieren. Keine leichte Aufgabe, weshalb die Staatsgalerie nun eigens Lehrerinnen, Vertreter von Bildungsinstituten wie der Volkshochschule oder dem Anglo-German Institute eingeladen hat, um die Methode vorzustellen. Sie sollen helfen, auch Leute in die Staatsgalerie zu bringen, die sich bisher nicht angesprochen fühlten.

Dabei ist das Museum gerade für Menschen, die neu in Deutschland sind, der ideale Ort, um zu erklären „wie wir hier in Deutschland geworden sind, was wir sind“, sagt Christiane von Schilling. Im Museum lasse sich trefflich vermitteln, „wie wir ticken“. In ihren Kursen schaut sie ganz allgemein zum Beispiel auf eine Figur und kommt dann zum Besonderen. Denn wenn Geflüchtete Max Beckmanns „Reise auf dem Fisch“ beschreiben sollen, verknüpfen sie das Bild fast zwangsläufig mit ihrer eigenen Geschichte. Nach Hitlers Machtergreifung 1933 wurde Beckmann entlassen und war gezwungen, sich ins Private zurückzuziehen. Das Bild zeigt Mann und Frau auf einem Fisch, sie sind schicksalhaft miteinander verbunden. Über die eigene Biografie finde man leichter einen Zugang zum Bild, müsse sich aber nicht mit dem Gezeigten identifizieren, meint von Schilling. „Ich kann nehmen, was ich sehe, bin aber nicht in meiner eigenen Problematik.“

Rosemarie Trockels Videoarbeit zu Babys an der Mutterbrust erregt die Gemüter

Christiane von Schilling wurde von ihren Schülerinnen und Schülern belehrt, dass die meisten Symbole, die Künstler nutzen, international sind. Ob es der Fisch ist, der für Reichtum steht, das Meer als Quelle des Lebens oder das Schiff als Symbol für die Reise. „Das ist unabhängig von der Religion“, weiß die Kunstvermittlerin aus Erfahrung.

Selbst wenn konservative Geister fürchten mögen, dass die Kunst beim Sprachtraining zu kurz kommen könnte, ist von Schilling überzeugt, dass auch auf diesem Weg ein Dialog mit den Bildern möglich ist, etwa wenn sie bei einem flämischen Stillleben aus dem 17. Jahrhundert nicht über Barock, Komposition oder „Temperantia“, Mäßigung, spricht, sondern fragt, von wem und für wen dieser Tisch mit Austern, Konfekt und Früchten gedeckt sein könnte.

Plötzlich entsteht durch die Kunst ein Gespräch

Aufregung macht sich immer wieder breit, wenn eine Gruppe vor einer Videoarbeit von Rosemarie Trockel steht. In „Mutter, Mutter“ zeigt die Künstlerin Säuglinge, die an der Brust trinken. Es sind anrührende, aber auch sehr intime Szenen. „Je länger man stehen bleibt, desto schweigsamer wird eine Gruppe“, erzählt von Schilling. Gerade die Männer seien zunächst unruhig und hielten die Still-Aufnahmen für anzüglich. Letztlich fange man aber doch an, über Liebe und Geborgenheit zu sprechen, über die Sicherheit, die eine Mutter ihrem Kind geben kann.

Auch hier zeigt sich wieder, dass man „über etwas, das nichts mit mir zu tun hat, die Reflexion auf die eigene Situation lenken kann“, sagt Christiane von Schilling. Für sie ist gerade die Beschäftigung mit Rosemarie Trockel deshalb immer wieder eine ganz besondere Erfahrung. „Es gibt einen Moment, an dem es kippt und eine große Betroffenheit und ein Gespräch mit den Teilnehmern entsteht“, sagt sie. „Das kann Museum!“