Stuttgart ist international. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Der Alltag in Stuttgart ist geprägt von Mehrsprachigkeit. Diese sprachliche Vielfalt stellt einen Reichtum dar, der oft nicht gesehen wird und dafür umso mehr Beachtung verdient. Ein Kommentar von Jan Sellner.

Sprachschatz – diesen Ausdruck gibt’s nicht ohne Grund. In Stuttgart, der EM-Stadt, in der Menschen aus 185 Nationen leben, die mindestens ebenso viele Sprachen sprechen, liegt ein solcher Schatz. Ein besonders großer sogar. Das ist einem häufig nicht bewusst, weil die Amtssprache Deutsch ist und man – aus guten Gründen – Wert darauf legt, dass die Menschen, die hier leben, Deutsch lernen. Da gibt es Defizite. Das wird zu Recht auch angesprochen.

 

Gleichzeitig gibt es infolge des Zuzugs seit den 1960er Jahren ein großes Sprachvermögen in der Stadt, denn es ist in der Tat ein Vermögen, sich in mehreren Sprachen ausdrücken zu können. Viele Menschen in dieser multilingualen Stadt sind in der Hinsicht reich. Das Hin- und Herwechseln zwischen verschiedenen Sprachen ist Teil der Lebenswirklichkeit eines großen Teils der Stadtbevölkerung. Oft geschieht das ganz automatisch je nach Situation und Gesprächspartner. Manchmal sogar innerhalb eines Satzes – wenn beide beides verstehen.

Viele Stuttgarter wachsen heute mit zwei oder mehr Sprachen auf

Der Alltag in Stuttgart ist jedenfalls geprägt von Mehrsprachigkeit – und von Sprachvirtuosen: Hier die Damen an der Kasse des Mineralbads Berg, die mal in diese, mal in jene Sprache eintauchen – in Deutsch mit den Badegästen, in Slowakisch untereinander. Da der Gerüstbauer aus Albanien, der sich so geschickt zwischen Deutsch und Albanisch hin- und herbewegt wie zwischen den verschiedenen Ebenen seines Baugerüsts. Dort der deutsch-türkische Rechtsanwalt, der die Rechtsmaterie des einen wie des anderen Landes lesen und deuten kann. Diese Stadt ist voll von Wandlern zwischen den Sprachwelten. Auch voll von Übersetzern. Das ist eindrucksvoll zu erleben.

Tatsächlich wachsen viele junge Stuttgarter heute selbstverständlich mit zwei oder mehr Sprachen auf – mit Deutsch und der Sprache ihrer zugewanderten Eltern oder Großeltern. Was für ein Glück! Weil mehrere Sprachen zu können ja vielfach auch bedeutet, mehrere Perspektiven zu haben. Jede Sprache hat eine eigene Geschichte und eigene Sprachbilder. Die Welt von mehrsprachigen Menschen ist potenziell besonders reich an solchen Bildern. Oder wie es der italienische Regisseur Federico Fellini formulierte: „Eine andere Sprache ist eine andere Vision des Lebens.“ Da kann man schon mal neidisch werden, wenn sich der eigene Sprachschatz in Rudimenten aus Schulenglisch und -französisch und den Resten einer toten Sprache erschöpft.

Ein Landespreis als Wertschätzung für den Dialekt

Wobei Mehrsprachigkeit immer auch eine Definitionsfrage ist. Wie sagte ein Schwabe: „Ich spreche drei Sprachen: Hochdeutsch, Schwäbisch und über d’Leut.“ Das heißt nicht, dass schwäbische Eingeborene keinen Sinn für andere Sprachen und Einflüsse – auch kulinarischer Art – hätten. „Ohne Auswärtige dädat mir heut no auf onserem Zwiebelrostbraten romkaua“, stellte ein Hiesiger einmal fest. Damit soll nichts gegen Zwiebelrostbraten gesagt sein, und schon gar nicht gegen Dialekt. Im Gegenteil, es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass die Landesregierung jetzt erstmals einen Landespreis für Dialekt ausschreibt. Denn gerade auch Mundarten tragen zum Sprachreichtum einer Gesellschaft bei – und schaffen überdies ein tieferes Sprachverständnis.

Sprachvielfalt als Chance auch im Alltag

Deutschland und Stuttgart im Besonderen bilden ein großes Forum der Kulturen und der Sprachen. Jetzt, während der Fußball-Europameisterschaft, fällt dieses Charakteristikum noch stärker auf – in einem positiv besetzten Kontext. Man sollte diese Vielfalt auch unabhängig von dem populären 24-Nationen-Turnier als eine Chance verstehen. Erst einmal aber rufen wir den am Sonntag hier kickenden Dänen und Slowenen mithilfe des Google-Übersetzers zu: „Velkommen“ und „Dobrodôšli!“