Martin Schmidt ist Sportdirektor des 1. FSV Mainz 05. Im Interview spricht er über das kommende Spiel gegen den VfB Stuttgart, Erfolgsfaktoren für Vereine – und darüber, welche Trümpfe Mainz 05 in Vertragsverhandlungen ausspielt.
Am Samstag (15.30 Uhr) gastiert der 1. FSV Mainz 05 in der Mercedes-Benz-Arena. Dessen Sportdirektor erinnert sich zuvor an ganz besonders wichtige Duelle mit dem VfB Stuttgart.
Herr Schmidt, Sie haben sich kürzlich in Marbella das Testspiel des VfB Stuttgart gegen den FC Sion angeschaut. Welche Eindrücke haben Sie gewonnen?
Ehrlich gesagt habe ich mich fast eher auf den FC Sion als auf den VfB Stuttgart konzentriert – schließlich ist Sion die Hauptstadt meines Heimatkantons Wallis, aus dem ich stamme und in dem ich noch wohne. (Lacht) Unser Sportvorstand Christian Heidel und das Trainerteam haben mehr auf den VfB geschaut.
Dann ist es ja fast verwunderlich, dass Sie noch nicht auftauchen in der extrem langen Trainerliste des FC Sion. Allein seit 2008 hat der Präsident Christian Constantin über 30 Coaches angestellt und wieder entlassen.
Damit, glaube ich, ist der FC Sion Rekordhalter in Europa. An mir ist dieser Kelch aber vorüber gegangen. (Lacht) Im Ernst: Ich hatte in meiner sportlichen Laufbahn nie einen engeren Bezug zum FC Sion, sondern war von der Jugend an einfach Fan. Als Trainer bin über den FC Thun zu Mainz 05 nach Deutschland gekommen.
Die Stärken des VfB Stuttgart
Zurück zum VfB, auf den der FSV am Samstag trifft. Wie bewerten Sie die Mannschaft?
Im Testspiel gegen den FC Sion habe ich eine körperlich sehr physische, robuste, aber auch schnelle Mannschaft gesehen. Deren Stärken im Umschaltspiel konnte man vor allem in der zweiten Hälfte sehr gut erkennen. Der VfB hat einige Waffen, die es gilt zu verteidigen. Es wird für uns am Samstag eine große Herausforderung.
Ist der VfB unter Bruno Labbadia ein anderer als zuvor?
Mit Sicherheit. Wenn er zu einem Verein kommt, legt er sehr großen Wert auf Teamgeist, auf Gemeinsamkeit, auf gute Organisation und Struktur auf dem Feld, aber auch auf klare Führung – und vor allem fordert er viel Einsatz ein. Das Leistungsprinzip bekommt in der Regel einen größeren Stellenwert. Am Tag des Spiels gegen den FC Sion war er übrigens recht heißer – das zeigt mir, dass in den Tagen und Wochen zuvor viel und intensiv gearbeitet worden ist.
Passt diese Herangehensweise auch zum aktuellen Team des VfB Stuttgart?
Ich maße mir nicht an, das zu bewerten. Ich denke, das kann grundsätzlich bei jeder Mannschaft sehr gut passen. Bruno kennt den Kampf gegen den Abstieg. Der VfB hat eine spielstarke Mannschaft mit viel Qualität. Die Kerle können alle kicken. Der Ansatz wird vermutlich sein, dem Ganzen eine neue Struktur zu geben.
Als beim VfB das Projekt Abstiegskampf das erste Mal in den vergangenen Jahren gescheitert ist, waren Sie als Trainer des Gegners live dabei . . .
. . . im Mai 2016 haben wir mit Mainz 05 am vorletzten Spieltag 3:1 in Stuttgart gewonnen. Wir haben uns dadurch für die Europa League qualifiziert, der VfB war quasi abgestiegen. Diese Gegensätze waren schon krass.
Welche Erinnerungen verbinden Sie ansonsten mit dem VfB?
Mir fällt da auch sofort mein zweites Spiel als Trainer des FC Augsburg ein. Wiederum mitten im Kampf gegen den Abstieg.
Erinnerungen an ein 6:0 im Frühjahr 2019
Das gleichzeitig das letzte für Markus Weinzierl als VfB-Trainer war.
Wir haben 6:0 gewonnen und einen Befreiungsschlag geschafft. Es war ein unheimlich wichtiges Spiel – wie eigentlich immer, wenn ich auf den VfB getroffen bin. Am kommenden Samstag geht es wieder um viel.
Sie können etwas entspannter sein als der VfB, der FSV hat immerhin fünf Punkte mehr auf dem Konto.
Aber vom Restart hängt viel ab. Es kann ab sofort noch in alle Richtungen gehen – weshalb wir in der ersten Woche gleich zwei Spiele haben, die eben diese Richtung weisen werden. Erst gegen den VfB, am Wochenende darauf gegen den VfL Bochum. Die Partien gegen Gegner auf Augenhöhe sind für uns in Mainz immer die wichtigsten. Gegen Borussia Dortmund oder den FC Bayern, die dazwischenliegen, sind das eher Bonusspiele.
Beim VfB ging es in den vergangenen Jahren auf und ab. Sehen Sie den Club überhaupt auf Augenhöhe mit Mainz 05?
Aufgrund seiner Geschichte und des Umfelds ist der VfB ja ein viel größerer Club – den ich in den vergangenen Jahren sehr aufmerksam verfolgt habe. Es haben immer wieder ehemalige Spieler von mir dort gespielt, zudem waren meine ehemaligen Co-Trainer Peter Perchtold und Michael Wimmer untre Pellegrino Matarazzo tätig. Es wurde, so finde ich, in den vergangenen drei Jahren gute Arbeit geleistet, der Fußball war schön anzuschauen, spielerisch und taktisch extrem variabel. Außerdem verfügt der VfB über eine Ansammlung sehr interessanter Talente.
Trotzdem steht der Club hinter Mainz 05 und sogar auf dem Relegationsplatz.
Leider gibt es das manchmal: Obwohl Vieles zu stimmen scheint und das Personal top ist, kommst du in einen Abwärtsstrudel und in eine Eigendynamik, die schwer zu bremsen ist. Generell sehe ich den VfB aber in einem breiten Mittelfeld der Bundesliga – in dem auch wir Mainzer uns bewegen. Die Mannschaft hat die Qualität, sich im Rest der Saison auch dorthin vorzuarbeiten. Allerdings hoffe ich, dass der Befreiungsschlag noch nicht gegen uns gelingt. (Lacht)
Beeindruckende Aufholjagd
Ihnen ist er in der Rückrunde der Saison 2020/2021 in beeindruckender Manier gelungen. Nach 13 Spielen hatte Mainz 05 sechs Punkte. Dann kam Christian Heidel als Sportvorstand, Sie kamen als Sportdirektor, Bo Svensson wurde Trainer. Am Ende erreichten Sie den Klassenverbleib mit 39 Punkten. Welche Rolle spielt diese Phase für die aktuelle Konstellation beim FSV?
Es war damals ein dickes Brett zu bohren, aber wir drei hatten den Vorteil, dass wir uns und den Verein gut kannten. Nun bin ich sicher: Das hat uns noch mehr zusammengeschweißt, den Verein stabilisiert, das Vertrauen intern wie extern gestärkt. Wenn wir seitdem mal in eine kleine sportliche Krise gerutscht sind, sind alle ruhig geblieben, sind zusammengerückt und hatten Vertrauen in die sportliche Führung.
Ist Kontinuität ein Erfolgsfaktor im schnelllebigen Fußballgeschäft?
Kontinuität ist wichtig. Darüber hinaus aber auch eine klare Konstellation von der Führung bis ins Team hinein. Ich sage gerne: Vereine, bei denen man abseits der Spieler lediglich den Präsidenten, den Sportchef und den Trainer kennt – das sind Vereine mit einem erkennbaren Profil. Schwieriger wird es, wenn zu viele Funktionsträger nach außen auffällig sein wollen und kommunizieren. Das Kerngeschäft Fußball muss immer im Zentrum stehen, der Cheftrainer der Motor sein. Dort, wo es eine klare Struktur, klare Abläufe und eine klare Sprache nach außen gibt, stellt sich oft der Erfolg ein. Das ist natürlich bei kleineren Vereinen einfacher zu erreichen. Nehmen Sie den SC Freiburg oder Union Berlin.
Was bedeutet Kontinuität für einen Kader?
Auch da braucht es eine klare Struktur mit gewissen Konstanten und Hierarchien. Wir haben seit Jahren eine Achse aus Robin Zentner, Stefan Bell, Alexander Hack, Leandro Barreiro, Jonathan Burkhardt und Karim Onisiwo. Daneben konnten sich immer wieder Talente entwickeln und auch den Sprung zu größeren Vereinen schaffen.
Begehrlichkeiten für Trainer und Spieler schaffen aber auch Unruhe.
Aber das sind ja marktübliche Vorgänge. Wichtig ist: Je stabiler man als Verein aufgebaut ist, desto klarer kann man in solchen Momenten agieren, kommunizieren und Stärke zeigen. Ich hoffe jedenfalls, dass wir unseren eingeschlagenen Weg noch lange gemeinsam gehen können.
Christian Heidel meinte zuletzt, andere Clubs könnten sich Anrufe wegen des Trainers Bo Svensson (Vertrag bis 2024) sparen.
Das zeigt, dass wir hier ein Projekt haben, das von beiden Seiten gelebt wird. Es gibt klare Commitments – die einen Sportvorstand in die Lage versetzen, das so klar zu betonen.
Wie Spieler-Gespräche in Mainz ablaufen
Stimmt es eigentlich, dass es in Mainz bei Gesprächen mit potenziellen Neuzugängen in den ersten Gesprächen nie ums Geld geht?
Ja, das stimmt. Vor allem der Trainer muss erst einmal den Spieler kennenlernen – und andersherum. Was bringt denn eine finanzielle Einigung, wenn es zwischen den beiden von Beginn an nicht passt? Und es ist ja ohnehin so, dass wir uns nicht mit Ronaldo zusammensetzen – und dann erst später merken, dass es finanziell nicht geht. Man kennt ja die ungefähren wirtschaftlichen Vorstellungen der Spieler.
Wie läuft das dann konkret ab?
Wir treffen uns mit dem Spieler und seinem Berater. Und dann schnappt sich unser Trainer den Spieler, sie gehen in einen Nebenraum und quatschen erst einmal ausführlich. Da gab es schon Fälle, da habe ich mich schon gefragt, ob die da drin eingeschlafen sind – weil sie eineinhalb Stunden weggeblieben sind. Sie haben nicht nur über Fußball, sondern auch über private Dinge, Familie, Heimat oder das Leben geredet. Am Ende geht es uns um das gesamte Bild des Menschen.
Wie meinen Sie das?
Mit manchen Menschen redet man – und plötzlich ist eine Stunde wie im Flug vergangen. Mit anderen dagegen weiß man nach zehn Minuten schon nicht mehr, über was man sprechen soll. So merkt auch ein Trainer schnell, ob es zwischenmenschlich passt. Danach gehen alle nach Hause, und in den Tagen danach gibt es ein Feedback. Erst dann wird über Zahlen geredet. Das Finanzielle darf nicht der erste Reizpunkt sein. Wir müssen, wie andere wirtschaftlich kleinere Vereine auch, andere Joker ziehen.
Welche sind das?
Überzeugungskraft, ein kluger Karriereweg, Entwicklungschancen und ein ruhiges Umfeld. Manche Spieler sehen all das und wollen bewusst nicht gleich den zweiten vor dem ersten Schritt machen. Die kommen dann zu uns. Manche sehen das aber auch anders.
Gehört auch der VfB Stuttgart zu diesen Vereinen?
Das kann ich nicht beurteilen. Ich nehme den VfB mit seinem Umfeld, seiner Größe und seinen Sponsoren eigentlich immer noch als ein großen Verein wahr und sehe es als eine Auszeichnung für uns an, wenn wir ihn hinter uns lassen können. Das schließt ja die andere Perspektive nicht aus.