Auf Hambüchens Spuren: Der Stuttgarter Turner Marcel Nguyen. Foto: dpa

SWR-Sportchef Antwerpes im Streitgespräch mit dem Turnerbund-Präsidenten Rainer Brechtken.

Stuttgart - Fußball, Wintersport, Boxen, Formel 1 - diese Sportarten beherrschen die deutsche Fernsehlandschaft. Randsportarten fühlen sich häufig ungerecht behandelt. Der SWR-Sportchef Michael Antwerpes und Rainer Brechtken, der Präsident des Schwäbischen und des Deutschen Turnerbundes, im Doppel-Interview.

Herr Brechtken, schauen Sie zurzeit viel Wintersport im Fernsehen?

Brechtken: Nein, vor allem weil ich gerade wenig Zeit zum Fernsehen habe.

Können Sie nachvollziehen, dass stundenlang Wintersport läuft, andere Sportarten dagegen oft das Nachsehen haben?

Brechtken: Ein öffentlich-rechtlicher Sender muss massenwirksame Sendungen im Programm haben, weil er sonst seine Gesamtlegitimation verlieren würde. Man kann dem Fernsehen keinen Vorwurf machen, weil es Topereignisse überträgt.

Was bemängeln Sie?

Brechtken: Was mir fehlt, ist eine Sendestrecke, bei der ich nicht nur Fußball sehe, sondern eine Zusammenfassung, was sonst los war im Sport. Das ist kein Massenbedürfnis, aber die Legitimation der Öffentlich-Rechtlichen hängt davon ab, dass die gesamte Sportlandschaft abgebildet wird.

Antwerpes: Dafür bräuchte man einen Sendeplatz. Ich glaube aber, dass das, was im Ersten an so einem Wintersporttag gesendet wird, das ist, was passiert. Wenn man dann noch die "Sportschau" dranhängt, schaffen wir es schon, einiges abzubilden.

Brechtken: Das ist ja auch eine Frage des Geldes. Wenn man eine Gesamtzusammenfassung machen will, weiß man nicht, welche fünf Minuten spannend sind. Man muss alles produzieren. Wer sagt, die Öffentlich-Rechtlichen sollen alles abbilden, muss dafür sorgen, dass die Spielräume gegeben sind - eine Aufgabe der Politik.

Herr Antwerpes, sind Sie zufrieden mit Ihren Möglichkeiten?

Antwerpes: Dann wäre ich ein schlechter Lobbyist für den Sport. Wir überlegen ständig, ob wir nicht noch mehr machen können. Ich glaube aber, das Gesamtangebot in der ARD, im ZDF und in den dritten Programmen ist schon ganz ordentlich.

Brechtken: An der Gesamtmenge Sport kann man nichts kritisieren, aber ein "Sport kompakt" fehlt mir einfach. Regionaler Sport hat eine hohe Bindewirkung. Das ist für den SWR in besonderer Weise wichtig, er ist ja derzeit nicht gerade Spitzenreiter, um es vorsichtig auszudrücken.

Herr Brechtken, vor einigen Wochen haben Sie den SWR öffentlich heftig kritisiert, weil er kurzfristig die Live-Übertragung der Champions Trophy der Turner in Stuttgart aus dem Programm genommen hat. Als Grund wurde das Fehlen von Fabian Hambüchen genannt.

Brechtken: Mich hat das geärgert. Es war lange vorher bekannt, dass Fabian 2010 keinen Mehrkampf mehr turnen wird. Außerdem hatten wir im vergangenen Jahr sehr gute Einschaltqouten - auch ohne ihn.

Antwerpes: Das war sicher ärgerlich für die Organisatoren, weil sie den Zeitplan ändern mussten. Am Ende liefen aber sieben Minuten im Ersten. Andere Sportarten wären glücklich, wenn sie so lange auftauchen würden. Aber grundsätzlich stimmt die Richtung beim Turnen.

Brechtken: Trotzdem muss man ab und zu mal kritisieren. Und es gibt im Turnen ja nicht mehr nur Hambüchen. Wir haben auch Philipp Boy oder Marcel Nguyen.  

"Der SWR krankt momentan an den Einschaltqouten."

Wie abhängig sind Randsportarten von Stars?

Antwerpes: Sehr. Sportarten brauchen Leute, die vorne mit dabei sind und Medaillen gewinnen - und zwar regelmäßig.

Das Turnen hat ein Format entwickelt, das auf das Fernsehen zugeschnitten ist. Ist das die einzige Chance für Randsportarten?

Brechtken: Die Bilder im Turnen waren schon immer unschlagbar. Bislang hatte aber der Kampf Mann gegen Mann gefehlt. Deshalb haben wir die Champions Trophy entwickelt, bei der die Besten unmittelbar gegeneinander antreten. Es gibt ein paar Sportarten, die sich gewandelt haben.

Antwerpes: Biathlon ist ein Paradebeispiel. Früher sind die Athleten im Wald verschwunden, heute gibt es Jagd-, Staffel-, Massenstart- oder Verfolgungsrennen. Das ist spannend. Sportarten und das Fernsehen können sich aufeinander zubewegen.

Hat so jede Sportart eine Chance?

Antwerpes: Man kann nicht jedem versprechen, häufig im Fernsehen aufzutauchen. Und Sportarten dürfen sich auch nicht prostituieren. Nach dem Motto: Ich mache jetzt meine Bälle größer, nur damit ich im Fernsehen komme.

Hat das dem Tischtennis nichts gebracht?

Antwerpes: Überhaupt nichts. Tischtennis ist ein so schneller Sport. Nur mit sehr viel Aufwand könnte es im TV leidlich erfolgreich sein, es wäre aber kein Quotenrenner.

Was ist denn ein Quotenrenner?

Antwerpes: Quotenrenner müssen, zumindest im dritten Programm, sieben bis acht Prozent haben. Der SWR krankt momentan an den Einschaltqouten. Selbst "Sport im Dritten" hat nur knapp über sieben Prozent.

Welche Quoten haben Wintersporttage?

Antwerpes: Im Durchschnitt 20 Prozent. In vielen Haushalten läuft der Fernseher an solchen Tagen von 9 bis 17 Uhr. 

"Wer außer uns soll täglich 16 Stunden Olympia übertragen?"

Warum gibt es so einen TV-Sporttag nicht auch im Sommer?

Antwerpes: Das haben wir schon überlegt, aber wir haben noch kein schlüssiges Konzept gefunden, wie man die verschiedenen Sportarten einpassen kann. Wer will schon morgens um zehn Handball spielen?

Brechtken: Im Winter ist es einfacher, weil die Termine von einem Verband koordiniert werden. Im Sommer hat man zudem immer den Fußball als Konkurrenz. Und in den wenigsten Sportarten gibt es so eine Kontinuität wie im Wintersport. Im Turnen, zum Beispiel, ist es ein Hindernis, dass jedes Jahr eine EM und eine WM stattfinden, auf die man sich vorbereiten muss.

Antwerpes: So etwas entwertet eine Sportart. Das ist beim Biathlon auch so.

Brechtken: Die Leichtathleten sind klüger.

Antwerpes: Dennoch werden sie im Ersten nicht mehr stattfinden. Die Weltmeisterschaften in Daegu 2011 und Moskau 2013 werden nicht gekauft, weil sie zu teuer sind. Die wollten 15 Millionen für Daegu - mit acht Stunden Zeitverschiebung. Doppelt so viel wie für die Berlin-WM. Hier ist Schluss, wir können nicht alle Preise mitgehen.

Brechtken: Da haben auch wir im Sport eine Aufgabe. Wir dürfen nicht überziehen.

Antwerpes: Auch die Übertragungen von Olympia 2014 und 2016 sind noch nicht ausverhandelt. Aber da frage ich mich: Wer außer uns soll täglich 16 Stunden Olympia übertragen? RTL sicher nicht.

Brechtken: Die picken nur die Rosinen raus.

Antwerpes: Man hat sogar mal überlegt, die Übertragung zu splitten. Dann wird häppchenweise meistbietend verkauft. Zum Beispiel Schwimmen an die ARD und Leichtathletik an RTL, nur um mehr Geld zu machen.

Herr Antwerpes, wie passt eigentlich die Jagd nach der Quote zum Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen?

Antwerpes: Da sind wir bei der vielzitierten Grundversorgung: Information, Bildung, Unterhaltung. Konkret definiert ist das nicht. Die Grundversorgung im Sport liegt immer im Ermessen einer Redaktion. Die Tendenz, dass wir auf die Quote achten müssen, ist in Ordnung, solange es das Erste betrifft. Wir wollen im Ranking die Nummer eins sein. Was uns 2010 trotz Olympia und Fußball-WM übrigens nicht gelungen ist. RTL hat uns mit "Bauer sucht Frau" oder dem "Supertalent" den Rang abgelaufen.

Und bei den dritten Programmen?

Antwerpes: Natürlich sendet man lieber vor einer Million als vor 100.000 Zuschauern. Wenn wir aber alle SWR-Sendungen nach der Quote überprüfen würden, müssten wir ziemlich viel streichen. Im Dritten ist es eine sorgsame Abwägung der Interessen zwischen Auftrag und Quote.  

"Ausgerechnet Olympische Spiele und Fußball dürfen weiterhin gesponsert werden."

Drohen die Öffentlich-Rechtlichen sich zu sehr an die Privaten anzupassen?  

Antwerpes: Wir wollen uns immer noch abgrenzen. Bei der "Tagesschau" zum Beispiel werden wir nicht davon abgehen, nach politisch-journalistischen und nicht nach reißerischen Gesichtspunkten zu sortieren. Brechtken: Es gibt aber auch Gefährdungen, über die man diskutieren kann. Ich denke da gerade an die ARD-"Brennpunktsendung" über ein gewisses Syndesmoseband (die Verletzung, die zu Michael Ballacks WM-Aus führte, d. Red.).

Antwerpes: Das interessiert aber die Leute.

Brechtken: Ist es aber auch bedeutend? Mich schüttelt es immer noch, wenn Trainerentlassungen in der Bundesliga in den Nachrichten an Punkt eins kommen. Auch wenn ich leidenschaftlicher Sportler bin - Sport ist nicht die Nummer eins in der Welt.

Antwerpes: In diesen Fällen gerät aber das öffentlich-rechtliche System nicht ins Wanken. Das kann man machen. Schmuddelgeschichten wie das Dschungelcamp würden bei uns aber niemals laufen.

Dafür würden einige Randsportarten gerne häufiger im Fernsehen laufen. Was können die Verantwortlichen tun?

Antwerpes: Über den Ligabetrieb hinausdenken. Uns interessieren Geschichten rund um die Sportart. Da sind wir auf die Vereine angewiesen. Eine Geschichte über einen Spieler verkaufe ich leichter als einen Spielbericht. Und über diesen Umweg kann man eine Sportart auch transportieren.

Auf die Randsportarten kommen noch größere Probleme zu. Ab 2013 verbietet der Rundfunkstaatsvertrag das TV-Sponsoring.

Antwerpes: Das ist ein Problem für die Produktionen. Es sind Gelder, die in die Kalkulationen einfließen.

Brechtken: Manchmal glaube ich, manche verstehen es nicht ganz. TV-Sponsoring wird ja nicht komplett verboten. Ausgerechnet Olympische Spiele und Fußball dürfen weiterhin gesponsert werden. Das ist ein Treppenwitz.

Anfang 2011 sind die Randsportarten ein Thema im Rundfunkrat. Werden sich die Parteien annähern?

Brechtken: Wir müssen im Dialog bleiben. Wir tauschen uns regelmäßig mit dem Landessportverband, den zehn fernsehwirksamsten Sportarten und den SWRRedakteuren aus. Jeder hat seine Probleme, seine Interessen, es gibt Zwänge. Und es gibt Übereinstimmungen, die wir noch nicht durchgesetzt haben. Es hat keinen Sinn, sich zu prügeln. Wenn es uns gelingt, ein Stück Ergänzung zum Fußball hinzukriegen, wären wir einen Riesenschritt weiter.