Szene aus Demis Volpis „Salome“ mit Elisa Badenes und Roman Novitzky Foto: Stuttgarter Ballett

Von „Dornröschen“ bis „Salome“ und zum Ende eine tolle Festwoche: Hinter der Kompanie von Reid Anderson liegt ein aufregendes und abwechslungsreiches Jahr, das künstlerisch jedoch manchen Wunsch offen ließ.

Stuttgart - Künstlerisch wegweisend? Dieses Prädikat schmückte während der zurückliegenden Spielzeit zu selten die Premieren des Stuttgarter Balletts. Ein Aufreger war die Saison trotzdem – und das nicht nur deshalb, weil Haus-Choreograf Demis Volpi die Stuttgarter Tänzer für seine „Salome“ so sexy posieren ließ. Choreografisch war die Annäherung an Oscar Wilde dagegen zu leichte Kost.

Roman Novitzky ein in den Rollstuhl verbannter Herodes, Alicia Amatriain ein stereotyp kreisender Mond, David Moore ein sich dem Tanz versagender Schmerzensmann? Zu wenig Bewegung war in dieser „Salome“. Tänzerisch, weil selbst eine wie Elisa Badenes in der Hauptrolle das Drama nicht allein voranbringen kann. Inhaltlich, weil nicht viel übrig blieb von Wildes Ringen um den Traum vom Ideal und der Unmöglichkeit seiner Erfüllung.

Wie im Jahr davor mit Cherkaouis „Feuervogel“ lag auch in dieser Saison der erwartete Höhepunkt eher tief. In Erinnerung bleiben wird sie aber: Als das Jahr, in dem Alicia Amatriain mit der Ernennung zur Kammertänzerin, mit dem Faust-Theaterpreis und dem Prix Benois ein Auszeichnungs-Hattrick gelang und die fleißige Allrounderin endlich die Früchte ihrer Arbeit ernten durfte. Als das Jahr, in dem die Stuttgarter Staatstheater mit Friedemann Vogel und Jason Reilly zwei weitere verdienstvolle Künstler zu Kammertänzern kürten. Als das Jahr, in dem Louis Stiens im Kammertheater unter Beobachtung choreografierte und Daniel Camargo nach Amsterdam zog.

Es war das Jahr, in dem Reid Anderson Bilanz zog

Es war aber vor allem das Jahr, an dessen Ende Reid Anderson auf 20 Jahre Intendanz zurückblickte. Ein Familienfest war die grandiose Festwoche, wie man es vom gut vernetzten Stuttgarter Ballett kennt, aber auch die eindrucksvolle Bilanz eines Ermöglichers, der Tänzerkarrieren voran- und den Mut für knapp 100 Uraufführungen aufgebracht hat, der mit der Entdeckung von Künstlern wie Marco Goecke belohnt wurde.

Vom zweiten Haus-Choreografen kam denn auch der wichtigste Output in dieser Spielzeit: „Lucid Dream“ heißt Goeckes Uraufführung, wie immer ein Nachtstück, aber doch mit hellwachen Gesten. Besonders ist dieses Stück in Goeckes Werk, weil kleinteilige Nervosität schneidendem Insistieren, das Ausprobieren künstlerischer Selbstbehauptung gewichen ist. Wie Nachtmahre zaubert er zu den Klängen Mahlers die Tänzer aus den Kulissen – und stellte ein Stück geheimnisvoll wie Mondgestein neben zwei hell funkelnde. Eines davon war Scholz‘ tänzerisch auf Hochglanz polierte „Siebte Sinfonie“.

Das zweite, Forsythes „The second Detail“, war 1991 von Reid Anderson für das damals von ihm geleitete kanadische Nationalballett in Auftrag gegeben worden. Fraglich, ob es ihm nach 25 Jahren unbedingt hat nachreisen müssen. Es zeigt Forsythes typische Dekonstruktionen, aber in Light-Version. Warum nicht seine spannendere „Approximate Sonata“ aus dem Stuttgarter Dornröschenschlaf wecken?

Obermachos lassen Fäuste und Stühle fliegen

Auch von Jirí Kylián bietet das Stuttgarter Repertoire mehr, als die Britten-Elegie „Vergessenes Land“, die Anderson zum x-ten Male hervorholte und mit van Manens „Variations for two couples“ und „Solo“ sowie Crankos „Poème de l’extase“ im Oktober zum ersten Ballettabend packte.

Neues gab es noch einmal im März, als Katarzyna Kozielska „Neurons“ an den Start schickte. Die Stuttgarter Halbsolistin vertraut auf die Stärken ihres Vokabulars: Schnell Fließendes, sich flink verwindende Paarsituationen wechseln ab mit fast monumental inszenierter Körperlichkeit. Vor allem für ihre Kolleginnen hat die Choreografin verblüffende Einfälle.

Zu sehen waren Kozielskas „Neurons“ im Rahmen eines Ballettabends, dem Hans van Manens erstmals in Stuttgart getanztes „Kammerballett“ seinen Titel gab. Acht Tänzer machen es zum Bewegungswunder, das direkt zum Zuschauer spricht, wenn sie mit Händen Gedankenstriche, Ausrufe- und Fragezeichen im Raum platzieren.

Der Abend brachte auch Glen Tetleys Männer-Six-Pack „Arena“ zurück, in dem Jason Reilly, Daniel Camargo und Constantine Allen als Obermachos mit fliegenden Fäusten und Stühlen, mit sexueller Energie und animalischen Attacken für gefährliche Unterströmungen sorgten.

Ob „Endstation Sehnsucht“, „Dornröschen“, „Cranko-Klassiker“ oder Crankos große Handlungsballette, die zuletzt bei der Festwoche zu sehen waren: Ein gut aufgelegtes Ensemble sorgte die ganze Saison über bei jeder Vorstellung für Ballett in Bestform. Diesen Teamgeist zu bewahren, statt durch die Kür von Superhelden zu gefährden, ist Aufgabe für die Zukunft.